Liebe Gemeinde,
es ist gut, dass es jedes Jahr wieder Weihnachten gibt. Denn so werden
wir Jahr für Jahr erinnert, worauf es in unserem Glauben wirklich
ankommt. So werden wir Jahr für Jahr erinnert an unseren Herrn
Jesus Christus. Lasst uns diese Erinnerung etwas näher in
Augenschein nehmen.
"Sie wissen doch, dass wir um 19.00 Uhr schließen", sagte der
Verkäufer, als er vor dem enttäuschten Kunden den Rolladen
herunterließ und der Kunde kein Weihnachtsgeschenk mehr bekam.
"Sie wissen doch, dass es die Prämie nur gibt, wenn Sie den
Vertrag bis zum 31.12. abschließen", sagte die Angestellte in der
Sparkasse. "Sie wissen doch, dass Sie schon lange mit dem Rauchen
hätten aufhören müssen", sagte der Chirurg, bevor er dem
Patienten das Raucherbein amputierte. Ja - eigentlich hätte
man es wissen müssen, schließlich war es alles kein
Geheimnis. Offensichtlich ist der Mensch ein Wesen mit einem kurzen
Gedächtnis. Einem Gedächtnis, das sehr gezielt lästige
und unangenehme Dinge unter den Tisch fallen lässt. Aber auch
manchmal ein Gedächtnis, das gute und nützliche Dinge
vergisst, so dass man sich hinterher vor Ärger selbst ohrfeigen
könnte.
Ihr wisst doch, dass Jesus in diese Welt gekommen ist, damit er uns
unsere Sünden wegnimmt. Ihr wisst es - so erinnert der Apostel
Johannes seine Leser an Weihnachten. Offensichtlich brauchen wir auch
in geistlichen Fragen immer wieder eine
Gedächtnisauffrischung. "Weiter, liebe Brüder: Freut
euch in dem Herrn! dass ich euch immer dasselbe schreibe,
verdrießt mich nicht und macht euch um so gewisser." (Philipper
3:1) So schreibt Paulus seiner Gemeinde in Philippi - und er will damit
nicht ausdrücken, dass er zu faul ist, immer wieder neue Predigten
zu erarbeiten. Ein großer Teil kirchlicher Arbeit besteht
tatsächlich im Erinnern, Auffrischen, dasselbe auf hundert
verschiedene Weisen immer wieder neu zu sagen - bis heute.
So gesehen ist Weihnachten wirklich ein klassisches "Erinnerungsfest".
Es sind nicht nur die Schokoladenweihnachtsmänner, die es Jahr
für Jahr ab September zu kaufen gibt, und die uns an eine Spende
für die notleidende Schokoladenindustrie erinnern. Nicht nur die
festlich geschmückten Schaufenster, die Weihnachtslieder in den
Geschäften, und die Weihnachtsmärkte, die uns uns jahraus,
jahrein daran erinnern: Dem deutschen Einzelhandel ginge es ohne das
Weihnachtsgeschäft schlecht.
Nein - auch in kirchlicher Hinsicht ist Weihnachten jedes Jahr ein
Fest, bei dem immer wieder das Gleiche wiederkehrt: Weihnachtsfeiern,
Weihnachtslieder, Krippenspiele und Kirchenkonzerte, Andachten und
Gottesdienste. Nur, dass diese wiederkehrenden Erinnerungen nicht dem
Mammon, sondern unserem Herrn Jesus Christus und unserem Glauben
dienen. Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit merken wir etwas vom
Sinn des Kirchenjahres, das jedes Jahr den gleichen Kreis
durchläuft: von Advent über Weihnachten, Passion und Ostern,
Pfingsten, Trinitatis und die lange Zeit danach, bis es wieder am
Ewigkeitssonntag schließt.
Ja, auch der Christenmensch ist ein Mensch, der regelmäßige
Erinnerung braucht. Eine Erinnerung daran, wovon er lebt, was ihn
trägt, und woraufhin er auch einmal getrost sterben kann.
Erinnerung - lassen wir uns davon eben sowenig verdrießen wie der
Apostel Paulus. Denken wir an das "ihr wisst" von Johannes. Und lassen
wir deshalb all das Weihnachtliche in unseren Kirchen und Gemeinden
nicht einfach so "über uns ergehen", weil man das eben Jahr
für Jahr so tut. Sondern sehen wir es als eine gute, eine
heilsame, ja, eine lebens- und glaubensnotwendige Erinnerung an.
Ich möchte deshalb heute an zwei Dinge erinnern, die uns
vielleicht nicht neu sind - aber die wir andererseits auch nicht oft
genug hören können, wenn wir in unserem Glauben gestärkt
werden wollen. Deshalb:
Warum ist Weihnachten eigentlich ein so freudiges Fest? Warum sind
viele Weihnachtslieder so fröhlich? Ihr wisst, dass er erschienen
ist, damit er die Sünden wegnehme. Eigentlich gibt es kaum etwas
Fröhlicheres als ein Mensch, dem die Last seiner Schuld abgenommen
wurde - sollte man denken.
Ich habe darauf hin einmal unsere Advents- und Weihnachtslieder
angeschaut. In der Tat - immer wieder wird diese Freude über die
Vergebung, über den Frieden und die Versöhnung mit Gott
besungen. "Christ ist erschienen, uns zu versühnen", so
heißt die zweite Strophe von "O du fröhliche" (Evangelisches
Gesangbuch 44,2). Ja, es ist richtig, wenn uns das an die
Versöhnung mit Gott erinnert, und an das Sühnopfer, das Jesus
für uns am Kreuz gebracht hat. "Fröhlich soll mein Herze
springen", so dichtet Paul Gerhardt. Und im vierten Vers singt er
über das Kind in der Krippe: "Er nimmt auf sich, was auf Erden wir
getan, gibt sich dran, unser Lamm zu werden, unser Lamm, das für
uns stirbet und bei Gott für den Tod Gnad und Fried erwirbet." (EG
36,4) Und das ist noch längst nicht alles. Denken wir an den Vers
"Groß ist des Vaters Huld, der Sohn tilgt unsre Schuld" aus dem
Weihnachtslied "Nun singet und seid froh" (EG 35,3). Oder an das
Adventslied "Die Nacht ist vorgedrungen". In der zweiten Strophe
heißt es: "Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr
sein Haupt. Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt." (EG
16,2) Ich lade jeden ein, in unserem Gesangbuch eigene, weitere
Entdeckungen zu machen. Und sich erinnern zu lassen: ihr wisst doch -
Jesus ist gekommen, um unsere Sünden wegzunehmen.
Schade, dass eine besondere Erinnerung bei uns nicht mehr so gut
ankommen kann wie damals, zur Zeit Jesu. Jeder weiß, wie gut
gewählte Markennamen an den Sinn und an die Verwendung eines
Produkts erinnern können. Jedes mal, wenn man den Namen hört,
dann denkt man daran. Wenn das neu auf den Markt gekommene Waschmittel
"Blitzweiss" genannt wird, dann kann jeder Kunde sich schon vorstellen,
welche unschlagbare Wirkung es bei seiner Buntwäsche entfalten
wird. "Schlafgut" ist sicher ein guter Name für eine Bettdecke -
kaum einer würde dagegen ein Erfrischungsgetränk so nennen.
"Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus
geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden."
(Matthäus 1:21) So ließ Gott an Josef ausrichten, als diesem
der Engel des Herrn erschien. In der Tat heißt der Name Jesus -
ins Deutsche übersetzt - "Der Herr ist Rettung". Jeder Jude, der
damals, vor 2000 Jahren, den Namen "Jesus" hörte, jeder wurde mit
diesem "Markenzeichen" unseres Herrn daran erinnert. Daran erinnert,
dass Jesus gekommen ist, um unsere Sünden wegzunehmen.
"Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem
Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden."
(Apostelgeschichte 4:12) So predigt Petrus zu den religiösen
Führern seines Volkes. Und er weiß genau, dass sie den
Anspruch des Namens "Jesus" verstehen, und woran sie damit erinnert
werden. Ja - sie, die religiösen Führer, erinnert dieser Name
in unangenehmer Weise an einen, den sie gekreuzigt haben - und der von
den Aposteln jetzt als auferstandener Retter, als Jesus Christus,
verkündigt wird.
Es ist schon wahr: geistliche Erinnerung kann nicht nur Freude
auslösen. Geistliche Erinnerung kann an alte, verdrängte
Dinge aus meinem Leben rühren. Dinge, die ich seit langem unter
den Teppich gekehrt habe, und für die ich mich schäme. Und
der Gottesdienstbesucher, der fast nur zu Weihnachten in die Kirche
findet - der erinnert sich an Sätze, die er vor langer Zeit einmal
im Kindergottesdienst und im Religionsunterricht gehört hat.
Geistliche Tatsachen, die schon lange ihre Bedeutung für sein
Leben verloren haben. Aber auch so etwas kann eine heilsame, manchmal
aufrüttelnde Erinnerung sein.
Ob wir uns daran erinnern lassen, was das Wichtigste beim
Weihnachtsfest ist? Erinnern lassen durch die Lieder, durch den Namen
"Jesus", und durch manches Andere? "Ihr wißt, dass er erschienen
ist, damit er die Sünden wegnehme."
"Unschuldig wie ein Neugeborenes", so sagt man bis heute, wenn man
einen Zustand besonderer Reinheit beschreiben will. Auch Jesus kam als
neu geborenes Kindlein in diese Welt, und vom selig und unschuldig
schlummernden Jesuskind singen manche unserer Weihnachtslieder.
Allerdings ist damit noch nicht das Einzigartige an diesem Kind
erfasst: Denn er war - wenn man es sich recht überlegt - der
einzige neu geborene Mensch der Weltgeschichte, der wirklich
"unschuldig wie ein Neugeborenes" war.
Wie komme ich auf diese Behauptung? Gehen wir der Sache etwas in der
Bibel nach. Bei dieser Frage muss man tatsächlich - wie man so
schön sagt - "bei Adam und Eva anfangen". Wenn ich die
Schöpfungsberichte richtig verstehe, dann wurden sowohl Adam als
auch Eva von Gott unmittelbar als erwachsene Menschen erschaffen. Sie
hatten nie Gelegenheit, wirklich unschuldige Neugeborene zu sein. Auch
nicht vor dem Sündenfall. Und nach der Katastrophe, nach ihrer
Versündigung und nach der Vertreibung aus dem Paradies? "Deshalb,
wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und
der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen
durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben." (Römer 5:12)
So drückt es der Apostel Paulus aus. Als ob alle neu geborene
Säuglinge von vornherein "infiziert" worden sind, durch die
Sünde ihres Urahnen Adam.
In der Tat: Schon beim ersten Sohn Adams und Evas, bei Kain, wurde das
in erschreckender Weise sichtbar: Als er seinen Bruder Abel erschlug.
"Erbsünde" nannte die Kirche schon immer diesen Zustand, sehr
treffend. Erbsünde - der Grund, warum es seit Adam und Eva nie
mehr ein Neugeborenes gab, das wirklich durch und durch frei von der
Sünde war. Im Augsburger Bekenntnis, das zu den Lehrgrundlagen
unserer Kirche gehört, heißt es im 2. Artikel: "Weiter wird
bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle natürlich
geborenen Menschen in Sünde empfangen und geboren werden, das
heißt, daß sie alle von Mutterleib an voll böser Lust
und Neigung sind und von Natur keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren
Glauben an Gott haben können..." (nachzulesen hinten in unserem
Evangelischen Gesangbuch, Nr. 857).
Gab es wirklich keinen einzigen unschuldigen Menschen? Doch: "... und
in ihm ist keine Sünde." So schreibt Johannes von unserem Herrn
Jesus Christus. "Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht
könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht
worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde." (Hebräer 4:15)
So lesen wir im Hebräerbrief. Ja - das Kind in der Krippe war
bisher tatsächlich der einzige, der wirklich "unschuldig wie ein
Neugeborener" war.
Was haben wir nun davon, dass wir das wissen? Auch hier helfen uns
unsere Weihnachtslieder weiter, und erinnern uns. "Er wechselt mit uns
wunderlich: Fleisch und Blut nimmt er an ..." "Er wird ein Knecht und
ich ein Herr; das mag ein Wechsel sein..." So singen wir im Lied "Lobt
Gott ihr Christen alle gleich" (EG 27,4+5) Hier, an Weihnachten, da
wird tatsächlich ein wunderbarer "Sünden-Austausch" in die
Wege geleitet. Christus, das ewige Wort des Vaters. Er kann als
unschuldiges Menschenkind alle unsere Schuld auf sich nehmen.
Es ist, als hätte Gott in diesem Kind einen Raum geschaffen. Einen
Freiraum, in dem gleichsam die "Müllhalde der Menschheit"
eingerichtet wird. All der "Müll" unserer Not und Schuld, des
Elends, das wir uns selbst und uns gegenseitig zufügen. All den
"Müll", der entstanden ist, weil wir uns von unserem Schöpfer
abgewendet haben und unsere eigenen Wege gegangen sind. All das hat
Raum gefunden - Raum gefunden bei dem einzigen Unschuldigen der
Menschheitsgeschichte. Raum gefunden bei dem Kind in der Krippe. Hier
kann all das abgeladen werden. So konnte er kommen, um uns unsere
Sünden wegzunehmen. Es ist wirklich ein wunderbarer Wechsel: Er
wird ein Knecht und ich ein Herr. Er ist erschienen, damit er die
Sünden wegnehme - und in ihm ist keine Sünde.
Ja, es ist wahr - so besehen verliert das Kind in der Krippe manches
von einer falschen Romantik. Da haben die süßen
Krippenlieder immer einen ernsten Unterton. So, wie es daliegt -
wahrhaft unschuldig "wie ein Neugeborenes". So wird schon beim Kind
etwas von seiner Bestimmung sichtbar. Die Bestimmung, dass dieses Kind
später als Mann am Kreuz sterben wird, für unsere
Sünden. Aber gerade dieser ernste Unterton - er kann uns zu einer
tieferen Weihnachtsfreude hinführen. Tiefer, als heilige und
selige Gefühle in der schönen Weihnachtszeit. Er kann uns
führen zu dieser tiefen, stillen Freude. Die nur ein Mensch
empfinden kann, der seinen Frieden mit Gott gefunden hat. Der all seine
Sünde und Schuld abgeladen hat bei dieser "Müllhalde der
Menschheit", bei diesem Kind in der Krippe. Ob wir uns auch daran
erinnern lassen?
Liebe Gemeinde, so wünsche ich uns allen in diesem Sinne frohe und
gesegnete Tage. Lasst es uns so feiern: Weihnachten, das Fest der
geistlichen Erinnerung. Weihnachten, das Fest der Sündenvergebung.
Weihnachten, das Fest der wunderbaren Sünden-"Verschiebung". "Und
ihr wißt, dass er erschienen ist, damit er die Sünden
wegnehme, und, in ihm ist keine Sünde." Amen.