Was ist Demut? - Predigt über Philipper 2,5-11

5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: 6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. 8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. 9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 11 und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Liebe Geschwister,
die Demut ist entscheidend für den christlichen Glauben. Wenn jemand nach der wichtigsten christlichen Lebenshaltung gefragt hat, dann haben die Väter unseres Glaubens von Anfang an gesagt: Die vornehmste christliche Haltung ist die der Demut, und der "Lehrer der Demut" ist Christus (so der Kirchenvater Augustinus). Echte Demut: Da bleiben wir alle unser ganzes Leben lang Schüler - und vergleichsweise junge Leute wie ich, die das Leben noch nicht so kennen und soviel erfahren und erlitten haben wie die Alten - wir haben besonders viel zu lernen. Wir brauchen es, dass Christus uns an die Hand nimmt, uns weiterführt im Glauben. Wenn wir auf diesem schwierigen - aber lohnenden! - Weg der Nachfolge bleiben. Was ist Demut?

1. Einige Vorbemerkungen zur Auslegung

Bevor ich fortfahre, noch ein kurzer Hinweis: Man kann unseren Text auch mit einem ganz anderen Schwerpunkt auslegen. Wenn man ihn nur für sich liest: Dann ist er doch zum größten Teil eine Beschreibung, ein Lobpreis Christi, zur Ehre Gottes des Vaters. Und enthält entscheidende Aussagen über das Wesen Christi und über die Dreieinigkeit. Ich finde diese Fragen außerordentlich wichtig, nicht nur für die Gelehrten. Aber ich möchte den Schwerpunkt heute anders setzen. Ich möchte den Text im Zusammenhang des Philipperbriefes betrachten. Aus der Situation dieser Gemeinde heraus.
Wir wollen deshalb von der recht verstandenen, christlichen Demut sprechen. Auch in  der Gemeinde von Philippi waren Menschen wie wir, und sie waren angewiesen auf Christus, den "Lehrer der Demut". Paulus schreibt ihnen, kurz vorher: "Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst", "seid unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht". Und dann kommt schon diese Beschreibung Christi, eine Beschreibung, die fast wie ein Lied oder ein Glaubensbekenntnis klingt.

2. Der Blickwechsel zu Christus

Eine Aufforderung zur Demut. Und dann: Eine Beschreibung, ein Lobpreis Christi. Ich finde diese Beobachtung außerordentlich wichtig. Gottes Wort leitet uns also nicht zur Demut an, indem es uns zuerst einen Katalog an Moralvorschriften an die Hand gibt: Tu dies und lasse das, und du wirst Demut lernen. Jeden Tag eine gute Tat, und du wirst ein echter Pfadfinder. Jeden Tag drei gute Taten, und du wirst ein wirklich demütiger Christ.
Nichts gegen Pfadfinder, und nichts gegen gute Vorsätze - das will ich damit nicht sagen. Aber wenn wir christliche Demut lernen wollen. Also solche, die aus dem Glauben an Jesus Christus  erwächst. Dann müssen wir wissen: Wir bekommen keinen Tugendkatalog - sondern Gottes Wort malt uns zuerst Jesus Christus vor Augen. Wer er ist. Und was er für uns getan hat. Für uns getan hat, damit wir echte Demut lernen können: "Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen." (Matthäus 11:29) Echte Demut - ist also nur aus einer lebendigen Verbindung zu Christus möglich. Echte Demut - ist nur im glaubenden Blick auf Christus möglich, auf den, der "von Herzen demütig" ist.
Was könnte das praktisch bedeuten? Man könnte schnell Anwendungen finden für das Berufsleben, oder für das Familienleben. Nun spricht Paulus in diesem Abschnitt aber zuerst über das Gemeindeleben. Denken wir uns also ein Beispiel aus, wie es aus  "richtigen Gemeindeleben" stammen könnte. Der junge, engagierte Mitarbeiter Otto Schulze setzt sich schon seit Jahren für seine Gemeinde ein. Wie oft hat er schon auf einen freien Abend verzichtet, um hier mit anzupacken. Erst kommen die Bedürfnisse der Gemeinde, dann die eigenen. Man hört auf seinen Rat und schätzt seine Arbeit. Nur seine Familie stöhnt ab und zu, dass man ihn nie zu sehen bekommt, weil er immer in der Gemeinde ist...
Eines Tages hat Otto Schulze eine fantastische Idee, die das Gemeindeleben ein großes Stück nach vorn bringen wird - denkt er. Mehrere Pastoren, die er schon gefragt hat, finden seine Idee eben so fantastisch. Nur die eigene Gemeinde: Keiner will mitziehen. "Passt nicht zu uns", sagt die eine. "Hat keinen Zweck", sagt der andere. Herr Schulze versucht, in langen Diskussionen zu beweisen, dass er recht hat. Doch irgendwann ist er zutiefst enttäuscht: Nimmt mich hier denn keiner ernst? Warum reiße ich mir hier ein Bein aus? Otto Schulze beschließt, sich zurückzuziehen: Die können mir gestohlen bleiben! Die ganzen Jahre habe ich mich eingesetzt. Und so etwas nennt man auch noch "Ehrenamt"! Pah, Ehre...! So mancher ist auf diese Weise schon aus dem Gemeindeleben "ausgestiegen", verärgert, frustriert, wütend - leider gibt es diese Erfahrungen immer wieder.
Wir wollen aber gern eine Geschichte mit "Happy-End". Stellen wir uns also vor: Nach einiger Zeit redet Otto Schulze mit einem guten Freund über die Angelegenheit. Der ist ein so guter Freund, dass er auch einmal unangenehme Sachen sagen darf. Und so sagt er: Otto, du musst einen Blickwechsel vollziehen. Du hast völlig aus dem Blick verloren, wovon wir als Christen - alle! - leben. Was das Entscheidende am Christenleben ist. Das Entscheidende ist doch nicht, was die Leute in der Gemeinde von mir halten und über mich denken. Das Entscheidende ist meine Beziehung zu Gott.
Und so sagt der Freund zu Otto: Schau auf Christus. Schau, er "erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz." Daraus lebst du. Daraus leben die, die von deiner Idee nichts gehalten haben. Daraus lebst du, mit deinem Einsatz für die Gemeinde. Daraus leben wir alle. Ist es da wirklich noch so wichtig, dass du in jedem Fall recht behältst? Kannst du da nicht gelassener damit umgehen? Selbst dann, wenn du tatsächlich recht hattest? Bist du nicht auch ein Sünder, und lebst von Christus? Lebst von dem, was er für dich getan hat?
Otto verspricht seinem Freund, darüber nachzudenken. Und langsam, langsam wird es ihm klar. Viele Wochen braucht er dazu. Aber jetzt wird er noch einmal nüchtern und in Ruhe prüfen, ob Gott wirklich das will: dass er sich aus der Gemeindearbeit zurückzieht. Oder ob er in seinem gekränkten Stolz nicht viel zu sehr um sich selbst kreist. Und dabei den Blick auf Christus verloren hat: "Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz."
Echte Demut. Solche, die nicht aus "taktischen Gründen" demütig ist - die etwas vortäuscht, damit ich den anderen dann besser hereinlegen kann. Sondern solche Demut, die von Herzen kommt. Die wächst aus der Beziehung zu Christus. Die wächst aus diesem Blickwechsel. Weg von mir selbst. Hin auf ihn. Echte Demut wächst aus dem Blick auf das Größte, was er mir schenken konnte: Die Vergebung der Sünden und freien Zugang zu Gott. "Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz." Solche echte Demut - die kann viel verändern. Die wird mich  in manchem, was mir so widerfährt - einen echten Blickwechsel vollziehen lassen. Weg von mir. Hin zu ihm.

3. Demut ist nichts für Schwächlinge

Nachdem wir diesen Blickwechsel vollzogen haben. Nachdem wir gesehen haben, was Christus für uns getan hat. Danach können wir auch dem zweiten Grund nachgehen. Warum Paulus uns ausgerechnet in einer Abhandlung über die Demut Christus vor Augen malt. Und keinen Moralkatalog aufstellt. Denn es geht hier nicht nur um Christus für uns. Nicht nur um das, was er für uns getan hat. Es geht auch um den Christus vor uns. Christus als Vor-bild. Als "Lehrer der Demut".
Es gibt manche Christen, die ein Armband oder T-Shirt mit den Buchstaben WWJD tragen. Das ist Englisch - wie es eben heute modern ist - und ist die Abkürzung für:  What would Jesus do? Das heißt auf deutsch: Was hätte Jesus getan? Eigentlich ist es ein alter Rat. Und dieser alte Rat - bei allen Dingen zu fragen: Was hätte Jesus in dieser Situation getan? Er ist gar nicht so verkehrt.  Was meint Jesus, wenn er im Evangelium sagt: Ich bin von Herzen demütig?
"Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an." Wie erstaunlich, ja gegen alle Vernunft! Jesus war tatsächlich bereit, den Himmel aufzugeben. Er, der von Ewigkeit zu Ewigkeit beim Vater war. Er war bereit, in einem Stall geboren zu werden. Er war bereit, sich verachten und beschimpfen zu lassen. Obwohl er Gott gleich war - verzichtete er auf sein Recht. Und als es hart auf hart kam. Als er im Garten Gethsemane darum rang. Darum rang, dass er am Leben bleiben durfte, darum rang, dass dieser Kelch an ihm vorübergeht. Da wich er nicht aus. Sondern schließlich betete er: "Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!" (Matthäus 26:39)
Jesus gehorchte. Und dann führte er Gottes Heilsplan zu Ende, ging entschlossen seinen Weg, "und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz." Demut bei Christus: Für ihn ist wahre Demut in erster Linie freiwilliger, entschlossener Gehorsam gegen Gott. Gehorsam auch dann noch, wenn es harten Verzicht bedeutet. Nicht wie ich will, sondern wie du willst.
Demut ist also nichts für Schwächlinge! Für solche, die mit ihrem Leben nicht anders fertig werden. Für solche, die keinen eigenen Willen haben - sondern immer alles mit sich machen lassen. Hier ist die Demut ja oft missverstanden worden. So fand etwa der Philosoph Nietzsche auf diesem Hintergrund das Christentum etwas absolut Widerwärtiges. Das Christentum hat die großen Errungenschaften der Antike zerstört, so sagte er, das, was Römer und Griechen entdeckt hatten. Die Ausbreitung des Christentums, das heißt für ihn: Ein Aufstand der Schwachen gegen die wahrhaft Starken hat zum Niedergang unserer Kultur beigetragen. Man hat eine Religion der Schwäche verbreitet, eine Religion, in deren Mittelpunkt ein gekreuzigter Gott steht. Der Mensch muss wieder davon loskommen, muss vom Dahinleben als niedergedrückter, demütiger Mucker zum wahrhaft freien, großen Menschsein zurückfinden. Alles nur Vergangenheit? Wir wissen ja, wie auch heute wieder Menschen sehnsüchtig nach dem "Herrenmenschen" Ausschau halten. Nach dem geborenen Siegertypen, der die Anlage zum Herrschen schon in seinen Genen mit sich trägt, anderen Völkern und Rassen von Geburt an überlegen...
Doch was Jesus und das Christentum angeht, da kann man nur sagen: Welch ein Missverständnis! Jesus war kein "Herrenmensch". Aber Jesus war stark. Eigentlich muss er ein unglaublich starker Mann gewesen sein. Stark, durch seine jahrelange Arbeit als Zimmermann, und dann stark durch sein anstrengendes Leben auf Wanderschaft, ohne festen Wohnsitz. Eben nicht so ausgemergelt, wie er auf manchen Christusbildern erscheint. Wie hätte Jesus sonst seine letzte Nacht überstehen sollen? Die Verhaftung? Die langen Verhöre, ohne einen Augenblick Schlaf? Die Folter? Und dann am Kreuz: Da hatte er sogar noch Kraft, zu beten. Sogar für seine Feinde zu beten. Jesus war stark. Aber er war nicht nur körperlich stark - er war auch innerlich stark genug, um Gott zu gehorchen. Auch dann noch zu gehorchen, als Gott von ihm das Äußerste verlangte.
Das ist Demut. Wahre Demut ist eben nichts für Mucker und Schwächlinge. Die sich aus dem Leben zurückziehen, am liebsten in eine Klosterzelle. Wahre Demut ist auch nichts für die ewigen "Jasager". Die zu alles und jedem mit dem Kopf nicken, und es mit keinem verderben wollen. Nein - wahre Demut hat etwas Entschlossenes, Starkes an sich: Ich will Gott gehorchen. Ich werde seinen Willen tun, auch wenn es mich etwas kostet. Wenn es mich z.B. meinen Stolz kostet, weil ich darauf verzichte. Darauf verzichte, Recht zu behalten. Obwohl es mir eigentlich "zusteht".
Wenn ich mir Christus vor Augen stelle, als Vor-Bild. Denn ich kann mir sagen: Christus stand wahrlich mehr zu als mir. Ihm stand sogar der ganze Himmel zu. Er hatte von Anfang an Anspruch darauf, dass alle Geschöpfe vor ihm niederfallen und ihn anbeten. "Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen." (Kolosser 1:16) Und trotzdem wurde er ein  Mensch. Und man betete ihn nicht an, sondern man schlug ihn ins Gesicht. Nicht, weil er so schwach gewesen wäre, nein! Sondern weil er auf sein Recht verzichtete. Weil er entschlossen war, Gott zu gehorchen.
Vielleicht gewinnen viele praktische Worte der Bibel zum Thema "Demut" von daher noch einmal ein ganz neues Gesicht. Worte, wie: "Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar." (Matthäus 5:38) Oder: "Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt." (1. Petrus 3:9)  Wahre Demut - ist nichts für Schwächlinge, sondern ist für solche, die mit ganzer Entschlossenheit ihrem Herrn nachfolgen wollen. So hat Jesus es uns vorgemacht. Und so ruft er uns heute in seine Nachfolge.

4. Der "Lohn" der Demut

Gott, der Vater, er hat den entschlossenen Gehorsam seines Sohnes anerkannt. Er hat ihn für seine Demut (in Anführungszeichen) "belohnt". Wörtlich übersetzt heißt es in Vers 9:  Gott hat ihm aus reiner Gnade den Namen gegeben, der über alle Namen ist. Gott hat seinen Sohn beschenkt. Und ihn als Herrscher über die Menschheit und über das ganze Weltall eingesetzt, "dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind".
Natürlich wird Gott uns nicht den Platz auf dem Thron zu seiner Rechten einräumen, wenn wir demütig sind. Dieser Platz ist schon besetzt. Er bleibt allein Jesus vorbehalten. Aber eines dürfen wir wissen: Keiner, der Gott gehorcht. Keiner, der sich auf dieses Wagnis der Nachfolge einlässt. Keiner, sich auf wahre Demut einlässt. Keiner wird dabei von Gott enttäuscht werden. Das ist zuerst und vor allem ein Glaubensschritt. Dass ich mich an dieser Stelle ganz auf Gottes Zusagen verlasse. Denn Gott hält zu mir. "Demütigt euch unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit", so schreibt Petrus in seinem Brief (1. Petrus 5:6). Und viele andere Bibelstellen sagen mir das Gleiche, mit anderen Worten.
Auf lange Sicht wird es sich "auszahlen": Auszahlen, wenn wir den Blickwechsel von uns auf ihn vollziehen: auf Christus, für unsere Sünden gestorben und wieder auferstanden ist. Auf ihn, der alles für uns gegeben hat. Auf ihn, der uns täglich unseren Hochmut vergibt und uns neu seine Gnade, sein Erbarmen schenkt. Es wird es sich auszahlen: Wenn wir uns von seinem Vorbild leiten lassen, von ihm, dem großen "Lehrer der Demut". Wir können ihm vertrauen. Er wird uns dafür segnen, zu seiner Zeit. Das hat er versprochen. Lassen wir uns von ihm an die Hand nehmen, in seiner Nachfolge bleiben. So "seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht." In echter Demut.      Amen.

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