Liebe Gemeinde,
im Vaterunser macht Jesus uns Mut. Mut zu einem Leben in konsequenter
Abhängigkeit von Gott. Mut zu einem Leben voller Vertrauen zu
meinem Vater im Himmel. Der mich mehr liebt, als es ein menschlicher
Vater es je könnte.
Erinnern wir uns an die ersten drei Bitten des Vaterunsers: Geheiligt
werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Diese Bitten
drehen sich alle um Gott. Es ist entscheidend, dass wir in unseren
Gebeten nicht nur um uns selbst kreisen. Sondern zuerst "Fürbitte
für Gott" tun, damit sein Name überall geehrt wird, und er
"groß herauskommt". Damit sein Wort überall verkündigt
und geglaubt wird, und so sein Reich unter uns aufgebaut wird.
In den nächsten drei Bitten sehen wir, wie sich unser Vater im
Himmel uns zuwendet. Und uns alles geben will, was wir zum Leben
brauchen - zum Leben hier und jetzt, und zum ewigen Leben. Hören
wir die Worte Jesu: "11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 12 Und
vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem
Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen."
Beim letzten Mal habe ich gesagt: Meistens nennt man die wichtigste
Sache zuerst. Im ersten Teil des Vaterunsers war das: Dein Name werde
geheiligt. Wenn das so ist, könnte man sich wundern, warum Jesus
im zweiten Teil ausgerechnet diese Bitte an den Anfang stellt: Unser
tägliches Brot gib uns heute. Natürlich ist unser
tägliches Brot lebensnotwendig. Auch in unserer Zeit sterben immer
noch Millionen von Menschen, weil sie nicht genügend Nahrung zum
Überleben haben. Aber hat nicht Jesus selbst gesagt: Der Mensch
lebt nicht vom Brot allein (Lukas 4,4)? Ist es nicht viel wichtiger,
zunächst mit Gott ins Reine zu kommen, und zu beten: Vergib mir
meine Schuld?
Geistlich betrachtet ist das sicher richtig. Allerdings: mit einem Kopf
voller Sorgen. Oder: mit einem knurrenden Magen. Da lässt sich
schlecht an geistliche Dinge denken. Wir müssen uns im Alltag
über so manches den Kopf zerbrechen, das zunächst sehr
profan, gar nicht geistlich, aber dafür wichtig zum Leben ist.
Schon während seiner Zeit auf der Erde hat Jesus diese
Zusammenhänge berücksichtigt. Denken wir etwa an die Speisung
der Fünftausend (Johannes 6). Zuerst hatte Jesus seinen
Zuhörern das tägliche Brot gegeben. Bei seinem Brotwunder war
das so viel, dass noch zwölf Körbe voll übrigblieben.
Und dann, nachdem ihre dringendsten Bedürfnisse gedeckt waren,
sagt Jesus den Leuten: Jetzt lernt daraus, dass Gott euch nicht nur
euer tägliches Brot gibt. Sondern er gibt euch noch viel mehr. Er
gibt euch mich, seinen Sohn - nicht nur zum täglichen Leben,
sondern zum ewigen Leben. "Ich bin das Brot des Lebens", so sagt Jesus
ihnen (Johannes 6,35).
Vielleicht setzt Jesus diese Bitte deshalb an den Anfang. Weil er
möchte, dass wir zunächst einmal solche Erfahrungen im Gebet
machen, Erfahrungen bei alltäglichen Dingen. Erfahrungen, wie
unser Vater im Himmel sich um uns kümmert. Wie er sich nicht zu
schade ist, dass er sich um unseren "Alltagskram" sorgt.
Um was sollen wir beten? Jesus nennt das Brot. Brot war damals wie
heute ein Grundnahrungsmittel. Es steht für alles, was wir zum
täglichen Leben brauchen. Und das ist nicht nur Essen, sondern
auch Trinken, Kleidung, Wohnung usw. Das heißt zum Ersten: Wir
sollen tatsächlich um alles beten, was wir täglich brauchen.
Es ist also nicht so: Die scheinbar selbstverständlichen Sachen
kommen von selbst - die Nahrung aus dem Einkaufsmarkt, der Strom aus
der Steckdose. Und für die schwierigen Dinge ist dann Gott
zuständig. Sondern Jesus meint tatsächlich: Um alles - es ist
nichts überflüssig zu bitten. Das ist ungewöhnlich in
einer Zeit, wo man bei allem zuerst nach der Machbarkeit durch Mensch
und Technik fragt. Es ist ungewöhnlich, auch in kleinen Dingen von
Gott abhängig zu sein, und um alles zu bitten.
Und es heißt zum Zweiten: wir sollen um das tägliche Brot
bitten. D.h. wir bitten zuerst für heute, nicht für morgen,
und nicht für die nächste Woche. Natürlich ist es nicht
verboten, für etwas zu beten, was ich erst in einiger Zeit plane.
Aber es geht zunächst um die Bedürfnisse für heute.
Vielleicht ist es so ähnlich wie damals, beim Volk Israel
während der Wüstenwanderung. Gott schenkte seinem Volk jeden
Tag neu das Manna zum Aufsammeln, also das tägliche Brot (2. Mose
16). Er schenkte ihnen keinen großen "Manna-Gefrierschrank", mit
Vorräten für die nächsten Monate. Sondern er schenkte
jeden Tag das nötige. Diese Leute damals hätten sicher gut
verstanden, was Jesus mit dem täglichen Brot meint.
Ob wir uns darauf einlassen können? Auf ein solches Experiment?
Dass wir gerade auch um scheinbar unwichtigen "Kleinkram" bitten? Dass
wir zuallererst unsere heutigen Bedürfnisse ins Gebet nehmen, und
nicht die für übermorgen oder für nächstes Jahr?
Vielleicht werden wir überrascht sein, wie viele
Gebetserhörungen wir auf einmal erleben. Und wie groß uns
Gottes Liebe und Fürsorge vor Augen steht, die Fürsorge
unseres Vaters im Himmel. Die sich nicht zu schade ist
für die Kleinigkeiten des Alltags.
Zu den größten Problemen, die der Mensch mit Gott hat,
gehört: Der Mensch denkt immer wieder darüber nach, was Gott
ihm alles schuldet. Gott schuldet mir ein erfülltes,
glückliches Leben, ohne Sorge und Krankheit. Gott schuldet uns
eine Welt ohne Kriege und Katastrophen. Und wenn ich Christ bin: Dann
schuldet Gott mir die Freude im Glauben, ohne Zweifel und Anfechtungen.
Und je größer man den Schuldenberg Gottes auftürmt -
desto mehr wundert man sich, wie fern und unwirklich Gott scheinbar
ist. Desto mehr kommt die Frage auf: Gibt es ihn überhaupt? Und
wenn es ihn gibt - muss ich mich für ihn interessieren?
In der Tat werden mit dieser Bitte: Vergib mir meine Schuld. In der Tat
werden damit die Verhältnisse zwischen Gott und Mensch auf den
Kopf gestellt. Auf einmal ist Gott der Gläubiger, bei dem wir, die
Menschen, "tief in der Kreide stehen". Und wenn jemand einen
Schuldenberg hat, dann ist es sicher nicht Gott - sondern wir, du
und ich.
In einem bekannten Gleichnis, vom "Schalksknecht", wie es manche nennen
(Matthäus 18,21ff). Da vergleicht Jesus Gott mit einem König.
Seine Knechte schulden ihm astronomisch hohe Summen, die sie im Leben
nicht zurückzahlen können. Auch im Vaterunser gebraucht Jesus
dieses Bild, von uns, den Schuldnern, und von Gott, unserem
Gläubiger. Der uns unsere Schulden erlässt, aus reiner Gnade.
Nicht, weil wir so gute Menschen sind, die es verdienen. Sondern weil
Jesus unsere Schulden bezahlt hat - als er am Kreuz sein Leben für
uns gab. Jesus sagt einmal von sich: "Denn auch der Menschensohn ist
nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er
diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele." (Markus
10,45)
Vielleicht hilft uns das, diese Bitte neu zu verstehen. Denn wenn einer
aufrichtig sagt: Herr, vergib mir meine Schuld. Dann stellt er damit
das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder vom Kopf auf die
Füße. Dann sagt er: Nein, ich mache das nicht mehr mit. Ich
stelle mich nicht mehr auf die Seite derer, die Gottes "Schuldenberg"
weiter auftürmen. Die ihm Vorwürfe machen, was er alles
versäumt hat. Nein, ich will die wahren Verhältnisse
anerkennen. Ich will kommen, nicht als Fordernder, sondern als
bittendes Kind. Das zu seinem Vater im Himmel sagt: Lieber Vater, schau
nicht auf meinen Schuldenberg. Auf das was ich an dir und an meinem
Nächsten versäumt habe. Lieber Vater, schau statt dessen auf
Jesus. Der alle meine Schulden bezahlt hat, vor 2000 Jahren, am Kreuz
von Golgatha.
Wer so kommt, für den bleibt Gott nicht fern. Und in der
Abhängigkeit von ihm, voller Vertrauen auf seine Gnade. Da erfahre
ich endlich, was es heißt: Dass ich einen guten Vater im Himmel
habe. Ja, das ist eine Einladung zum Glauben. Für die, die sich
mit ihren Forderungen an Gott bisher den Weg zu ihm verbaut haben. Es
ist aber auch eine Erinnerung für die, die schon an Jesus Christus
glauben. Jesus lehrt dieses Gebet seine Jünger. Und je mehr und je
aufrichtiger wir als gläubige Menschen dieses Gebet beten: Vater,
vergib uns unsere Schuld. Desto näher wird uns Gott sein. Und
desto beglückender wird für mich die Erfahrung, dass ich ein
geliebtes Kind meines Vaters im Himmel bin.
Jeder, der schon eine Zeit lang Christ ist, weiß von den
inneren Kämpfen, die man manchmal durchzustehen hat. Ein solcher
Christ - der auch mit einem gewissen Sinn für Humor ausgestattet
war - meinte einmal sinngemäß: "Manchmal denke ich, ich habe
einen ganzen Zoo in meinem Herzen. Da wohnt ein Hund, der meine Frau
anknurrt. Ein Löwe, der die Kollegen anbrüllt. Eine Schlange,
die sich allerlei Falschheiten ausdenkt. Ein Affe, der sich über
andere lustig macht. Ein Faultier, das lieber herumliegen als arbeiten
möchte. Ein eitler Pfau, der sich gern vor allen aufplustert. Und
noch so manches andere Tier. Es ist ein ganz schöner Kampf, dass
diese Tiere nicht außer Kontrolle geraten."
Nun gab und gibt es immer wieder Christen, die sich mit diesem
mühsamen und oft frustrierenden Kampf nicht abfinden wollen.
Eines Tages kommen sie dann in einen Gottesdienst, und dort verspricht
man ihnen: Dieser "Zoo" in dir, der gehört bei einem Christen
nicht hinein. Diese Tiere werfen wir jetzt alle hinaus. Du brauchst
dazu nur noch etwas, was dir bislang gefehlt hat. Und dann hört
man Begriffe wie: "Voller Segen", "Erfüllung mit dem Heiligen
Geist", "Taufe im Heiligen Geist", oder wie man es sonst nennt. Wenn
dein Glaube endlich das notwendige Update erhalten hat, dann stehen
anschließend die Tiere draußen vor der Tür,
können einen noch anbellen und anknurren, aber das Herz ist sauber.
Ob das funktionieren wird? Als unsere Kinder noch klein waren,
besuchten wir mit ihnen gern den Tierpark. Als wir an den Käfigen
und Gehegen vorbeigingen, fiel an einigen Stellen auf: Es war zwar das
Schild mit der Bezeichnung zu sehen, das Stroh und die
Futterschüsseln. Aber kein Tier weit und breit! War der Käfig
leer? Nein - das Tier hatte sich nur versteckt, deshalb hätte man
denken können: Es ist gar nicht da. Das ist besonders bei einigen
Raubtieren so: Sie sind nachtaktiv. Tagsüber verstecken sie sich
und schlafen. Und nachts, heimlich, kommen sie heraus zu ihren
Raubzügen.
Genauso ist es mit den Sünden, die im Überschwang und den
Hochgefühlen einer besonderen Erfahrung scheinbar aus dem Herzen
verschwunden sind. Da möchte wie bei den Raubtieren rufen:
"Vorsicht, sie haben sich nur versteckt!" Oder mit dem Apostel Paulus
sagen: "Darum, wer meint, er stehe, mag zusehen, daß er nicht
falle." (1. Korinther 10,12) Und manchmal - da haben sie sich gar nicht
alle versteckt. Sondern der eitle Pfau schaut heraus und brüstet
sich: "Guckt mal, wie heilig ich bin. Im Vergleich zu mir, da seid ihr
alle Anfänger im Glauben."
Nein, gerade wir als Christen haben dieses Gebet bitter nötig,
jeden Tag: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns
von dem Bösen. Da kommen wir zu unserem himmlischen Vater,
mit all unserer Schwachheit, mit diesem wilden "Zoo" in uns, und doch
voller Vertrauen. Und wir bitten ihn: Lieber Vater, wirke doch durch
deinen Heiligen Geist in mir, damit die Anfechtung mich nicht
überwältigt. Damit der "Zoo" in mir nicht außer
Kontrolle gerät. Damit ich das Vertrauen zu dir nicht verliere.
Und wir dürfen wissen: Dieses Gebet wird der Vater bestimmt
erhören. Schließlich hat Jesus es uns selbst gelehrt.
Lassen wir uns vom Vaterunser Mut machen. Mut zur Abhängigkeit von
Gott. Mut, auch um den "Alltagskram" zu beten, um die täglichen
Dinge, die uns Not machen. Mut um Beistand in diesem mühsamen
Kampf gegen unseren "inneren Schweinehund". Aber bitten wir vor allem
immer wieder um das Wichtigste: Lieber himmlischer Vater - vergib uns
unsere Schuld. Denn Jesus hat sie schon lange bezahlt, am Kreuz von
Golgatha. Amen.