Jesus lehrt beten - Das Vaterunser, 2. Teil (Matthäus 6,11-13)

Liebe Gemeinde,
im Vaterunser macht Jesus uns Mut. Mut zu einem Leben in konsequenter Abhängigkeit von Gott. Mut zu einem Leben voller Vertrauen zu meinem Vater im Himmel. Der mich mehr liebt, als es ein menschlicher Vater es je könnte.
Erinnern wir uns an die ersten drei Bitten des Vaterunsers: Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Diese Bitten drehen sich alle um Gott. Es ist entscheidend, dass wir in unseren Gebeten nicht nur um uns selbst kreisen. Sondern zuerst "Fürbitte für Gott" tun, damit sein Name überall geehrt wird, und er "groß herauskommt". Damit sein Wort überall verkündigt und geglaubt wird, und so sein Reich unter uns aufgebaut wird.
In den nächsten drei Bitten sehen wir, wie sich unser Vater im Himmel uns zuwendet. Und uns alles geben will, was wir zum Leben brauchen - zum Leben hier und jetzt, und zum ewigen Leben. Hören wir die Worte Jesu: "11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen."

1. Unser tägliches Brot gib uns heute

Beim letzten Mal habe ich gesagt: Meistens nennt man die wichtigste Sache zuerst. Im ersten Teil des Vaterunsers war das: Dein Name werde geheiligt. Wenn das so ist, könnte man sich wundern, warum Jesus im zweiten Teil ausgerechnet diese Bitte an den Anfang stellt: Unser tägliches Brot gib uns heute. Natürlich ist unser tägliches Brot lebensnotwendig. Auch in unserer Zeit sterben immer noch Millionen von Menschen, weil sie nicht genügend Nahrung zum Überleben haben. Aber hat nicht Jesus selbst gesagt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Lukas 4,4)? Ist es nicht viel wichtiger, zunächst mit Gott ins Reine zu kommen, und zu beten: Vergib mir meine Schuld?
Geistlich betrachtet ist das sicher richtig. Allerdings: mit einem Kopf voller Sorgen. Oder: mit einem knurrenden Magen. Da lässt sich schlecht an geistliche Dinge denken. Wir müssen uns im Alltag über so manches den Kopf zerbrechen, das zunächst sehr profan, gar nicht geistlich, aber dafür wichtig zum Leben ist.
Schon während seiner Zeit auf der Erde hat Jesus diese Zusammenhänge berücksichtigt. Denken wir etwa an die Speisung der Fünftausend (Johannes 6). Zuerst hatte Jesus seinen Zuhörern das tägliche Brot gegeben. Bei seinem Brotwunder war das so viel, dass noch zwölf Körbe voll übrigblieben. Und dann, nachdem ihre dringendsten Bedürfnisse gedeckt waren, sagt Jesus den Leuten: Jetzt lernt daraus, dass Gott euch nicht nur euer tägliches Brot gibt. Sondern er gibt euch noch viel mehr. Er gibt euch mich, seinen Sohn - nicht nur zum täglichen Leben, sondern zum ewigen Leben. "Ich bin das Brot des Lebens", so sagt Jesus ihnen (Johannes 6,35).
Vielleicht setzt Jesus diese Bitte deshalb an den Anfang. Weil er möchte, dass wir zunächst einmal solche Erfahrungen im Gebet machen, Erfahrungen bei alltäglichen Dingen. Erfahrungen, wie unser Vater im Himmel sich um uns kümmert. Wie er sich nicht zu schade ist, dass er sich um unseren "Alltagskram" sorgt.
Um was sollen wir beten? Jesus nennt das Brot. Brot war damals wie heute ein Grundnahrungsmittel. Es steht für alles, was wir zum täglichen Leben brauchen. Und das ist nicht nur Essen, sondern auch Trinken, Kleidung, Wohnung usw. Das heißt zum Ersten: Wir sollen tatsächlich um alles beten, was wir täglich brauchen. Es ist also nicht so: Die scheinbar selbstverständlichen Sachen kommen von selbst - die Nahrung aus dem Einkaufsmarkt, der Strom aus der Steckdose. Und für die schwierigen Dinge ist dann Gott zuständig. Sondern Jesus meint tatsächlich: Um alles - es ist nichts überflüssig zu bitten. Das ist ungewöhnlich in einer Zeit, wo man bei allem zuerst nach der Machbarkeit durch Mensch und Technik fragt. Es ist ungewöhnlich, auch in kleinen Dingen von Gott abhängig zu sein, und um alles zu bitten.
Und es heißt zum Zweiten: wir sollen um das tägliche Brot bitten. D.h. wir bitten zuerst für heute, nicht für morgen, und nicht für die nächste Woche. Natürlich ist es nicht verboten, für etwas zu beten, was ich erst in einiger Zeit plane. Aber es geht zunächst um die Bedürfnisse für heute. Vielleicht ist es so ähnlich wie damals, beim Volk Israel während der Wüstenwanderung. Gott schenkte seinem Volk jeden Tag neu das Manna zum Aufsammeln, also das tägliche Brot (2. Mose 16). Er schenkte ihnen keinen großen "Manna-Gefrierschrank", mit Vorräten für die nächsten Monate. Sondern er schenkte jeden Tag das nötige. Diese Leute damals hätten sicher gut verstanden, was Jesus mit dem täglichen Brot meint.
Ob wir uns darauf einlassen können? Auf ein solches Experiment? Dass wir gerade auch um scheinbar unwichtigen "Kleinkram" bitten? Dass wir zuallererst unsere heutigen Bedürfnisse ins Gebet nehmen, und nicht die für übermorgen oder für nächstes Jahr? Vielleicht werden wir überrascht sein, wie viele Gebetserhörungen wir auf einmal erleben. Und wie groß uns Gottes Liebe und Fürsorge vor Augen steht, die Fürsorge unseres   Vaters im Himmel. Die sich nicht zu schade ist für die Kleinigkeiten des Alltags.

2. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Zu den größten Problemen, die der Mensch mit Gott hat, gehört: Der Mensch denkt immer wieder darüber nach, was Gott ihm alles schuldet. Gott schuldet mir ein erfülltes, glückliches Leben, ohne Sorge und Krankheit. Gott schuldet uns eine Welt ohne Kriege und Katastrophen. Und wenn ich Christ bin: Dann schuldet Gott mir die Freude im Glauben, ohne Zweifel und Anfechtungen. Und je größer man den Schuldenberg Gottes auftürmt - desto mehr wundert man sich, wie fern und unwirklich Gott scheinbar ist. Desto mehr kommt die Frage auf: Gibt es ihn überhaupt? Und wenn es ihn gibt - muss ich mich für ihn interessieren?
In der Tat werden mit dieser Bitte: Vergib mir meine Schuld. In der Tat werden damit die Verhältnisse zwischen Gott und Mensch auf den Kopf gestellt. Auf einmal ist Gott der Gläubiger, bei dem wir, die Menschen, "tief in der Kreide stehen". Und wenn jemand einen Schuldenberg hat,  dann ist es sicher nicht Gott - sondern wir, du und ich.
In einem bekannten Gleichnis, vom "Schalksknecht", wie es manche nennen (Matthäus 18,21ff). Da vergleicht Jesus Gott mit einem König. Seine Knechte schulden ihm astronomisch hohe Summen, die sie im Leben nicht zurückzahlen können. Auch im Vaterunser gebraucht Jesus dieses Bild, von uns, den Schuldnern, und von Gott, unserem Gläubiger. Der uns unsere Schulden erlässt, aus reiner Gnade. Nicht, weil wir so gute Menschen sind, die es verdienen. Sondern weil Jesus unsere Schulden bezahlt hat - als er am Kreuz sein Leben für uns gab. Jesus sagt einmal von sich: "Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele." (Markus 10,45)
Vielleicht hilft uns das, diese Bitte neu zu verstehen. Denn wenn einer aufrichtig sagt: Herr, vergib mir meine Schuld. Dann stellt er damit das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder vom Kopf auf die Füße. Dann sagt er: Nein, ich mache das nicht mehr mit. Ich stelle mich nicht mehr auf die Seite derer, die Gottes "Schuldenberg" weiter auftürmen. Die ihm Vorwürfe machen, was er alles versäumt hat. Nein, ich will die wahren Verhältnisse anerkennen. Ich will kommen, nicht als Fordernder, sondern als bittendes Kind. Das zu seinem Vater im Himmel sagt: Lieber Vater, schau nicht auf meinen Schuldenberg. Auf das was ich an dir und an meinem Nächsten versäumt habe. Lieber Vater, schau statt dessen auf Jesus. Der alle meine Schulden bezahlt hat, vor 2000 Jahren, am Kreuz von Golgatha.
Wer so kommt, für den bleibt Gott nicht fern. Und in der Abhängigkeit von ihm, voller Vertrauen auf seine Gnade. Da erfahre ich endlich, was es heißt: Dass ich einen guten Vater im Himmel habe. Ja, das ist eine Einladung zum Glauben. Für die, die sich mit ihren Forderungen an Gott bisher den Weg zu ihm verbaut haben. Es ist aber auch eine Erinnerung für die, die schon an Jesus Christus glauben. Jesus lehrt dieses Gebet seine Jünger. Und je mehr und je aufrichtiger wir als gläubige Menschen dieses Gebet beten: Vater, vergib uns unsere Schuld. Desto näher wird uns Gott sein. Und desto beglückender wird für mich die Erfahrung, dass ich ein geliebtes Kind meines Vaters im Himmel bin.

3. Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen

Jeder, der schon eine Zeit lang Christ ist, weiß von den inneren Kämpfen, die man manchmal durchzustehen hat. Ein solcher Christ - der auch mit einem gewissen Sinn für Humor ausgestattet war - meinte einmal sinngemäß: "Manchmal denke ich, ich habe einen ganzen Zoo in meinem Herzen. Da wohnt ein Hund, der meine Frau anknurrt. Ein Löwe, der die Kollegen anbrüllt. Eine Schlange, die sich allerlei Falschheiten ausdenkt. Ein Affe, der sich über andere lustig macht. Ein Faultier, das lieber herumliegen als arbeiten möchte. Ein eitler Pfau, der sich gern vor allen aufplustert. Und noch so manches andere Tier. Es ist ein ganz schöner Kampf, dass diese Tiere nicht außer Kontrolle geraten."
Nun gab und gibt es immer wieder Christen, die sich mit diesem mühsamen und oft frustrierenden  Kampf nicht abfinden wollen. Eines Tages kommen sie dann in einen Gottesdienst, und dort verspricht man ihnen: Dieser "Zoo" in dir, der gehört bei einem Christen nicht hinein. Diese Tiere werfen wir jetzt alle hinaus. Du brauchst dazu nur noch etwas, was dir bislang gefehlt hat. Und dann hört man Begriffe wie: "Voller Segen", "Erfüllung mit dem Heiligen Geist", "Taufe im Heiligen Geist", oder wie man es sonst nennt. Wenn dein Glaube endlich das notwendige Update erhalten hat, dann stehen anschließend die Tiere draußen vor der Tür, können einen noch anbellen und anknurren, aber das Herz ist sauber.
Ob das funktionieren wird? Als unsere Kinder noch klein waren, besuchten wir mit ihnen gern den Tierpark. Als wir an den Käfigen und Gehegen vorbeigingen, fiel an einigen Stellen auf: Es war zwar das Schild mit der Bezeichnung zu sehen, das  Stroh und die Futterschüsseln. Aber kein Tier weit und breit! War der Käfig leer? Nein - das Tier hatte sich nur versteckt, deshalb hätte man denken können: Es ist gar nicht da. Das ist besonders bei einigen Raubtieren so: Sie sind nachtaktiv. Tagsüber verstecken sie sich und schlafen. Und nachts, heimlich, kommen sie heraus zu ihren Raubzügen.
Genauso ist es mit den Sünden, die im Überschwang und den Hochgefühlen einer besonderen Erfahrung scheinbar aus dem Herzen verschwunden sind. Da möchte wie bei den Raubtieren rufen: "Vorsicht, sie haben sich nur versteckt!" Oder mit dem Apostel Paulus sagen: "Darum, wer meint, er stehe, mag zusehen, daß er nicht falle." (1. Korinther 10,12) Und manchmal - da haben sie sich gar nicht alle versteckt. Sondern der eitle Pfau schaut heraus und brüstet sich: "Guckt mal, wie heilig ich bin. Im Vergleich zu mir, da seid ihr alle Anfänger im Glauben."
Nein, gerade wir als Christen haben dieses Gebet bitter nötig, jeden Tag: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Da kommen wir zu unserem himmlischen Vater,  mit all unserer Schwachheit, mit diesem wilden "Zoo" in uns, und doch voller Vertrauen. Und wir bitten ihn: Lieber Vater, wirke doch durch deinen Heiligen Geist in mir, damit die Anfechtung mich nicht überwältigt. Damit der "Zoo" in mir nicht außer Kontrolle gerät. Damit ich das Vertrauen zu dir nicht verliere. Und wir dürfen wissen: Dieses Gebet wird der Vater bestimmt erhören. Schließlich hat Jesus es uns selbst gelehrt.

Lassen wir uns vom Vaterunser Mut machen. Mut zur Abhängigkeit von Gott. Mut, auch um den "Alltagskram" zu beten, um die täglichen Dinge, die uns Not machen. Mut um Beistand in diesem mühsamen Kampf gegen unseren "inneren Schweinehund". Aber bitten wir vor allem immer wieder um das Wichtigste: Lieber himmlischer Vater - vergib uns unsere Schuld. Denn Jesus hat sie schon lange bezahlt, am Kreuz von Golgatha. Amen.

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