Ein verwundeter Heiland für ein verwundetes Gewissen -
Passionspredigt über Jesaja 42,1-4
42:1 Siehe, das ist mein Knecht - ich
halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen
hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die
Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme
wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er
nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht
auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst
wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das
Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.
Liebe Geschwister,
Jesus Christus, der gekreuzigte Knecht Gottes. Er will uns festhalten,
komme, was wolle. Zu ihm können wir kommen, in all unserer
Schwachheit: Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den
glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Bevor ich nun diesen Gedanken nachgehe, eine Bemerkung zu Beginn.
Dieses Wort stammt ja aus dem Alten Testament. Viele Jahrhunderte vor
Christus wurde es vom Propheten Jesaja weitergegeben. Und solche
Prophetenworte hatten immer verschiedene Bedeutungen. Eine wichtige
Frage war immer: Was hatte dieses Wort dem Volk Israel zu sagen,
damals, in seiner Lage? Was hatte Gott mit seinem Volk vor? Doch so
manches Wort wies auch darüber hinaus, weit hinaus in die Zukunft.
Und sprach gleichzeitig von dem Heiland, dem Messias, den Gott der
ganzen Welt schenken wollte.
In diesem zweiten Sinn möchte ich dieses Wort heute betrachten:
Als einen Hinweis auf unseren Heiland, als eine Beschreibung seines
Wesens. Die der Prophet viele Jahrhunderte gab, bevor Jesus dann
wirklich in einem Stall in Bethlehem geboren wurde.
1. Der Knecht Gottes
Wenn du so "richtig unten" bist, "geknickt", in Not, oder voller
Verzweiflung über dein Versagen - zu wem würdest du gehen? Wo
würdest du dir Rat holen, wo würdest du dein Herz
ausschütten? Bei einem stolzen, machtbewussten Menschen? Einem,
der offensichtlich immer wieder Erfolg hat in seinem Leben, der nicht
verstehen kann, wie man es nicht so weit bringen kann? Oder eher bei
einem ganz anderen: Einem, dem das Leben auch schon mitgespielt hat.
Der nicht immer nur vorwärtskam, kein "Siegertyp" ist, sondern
einer, der schon selbst manche Schläge einstecken musste. Und der
deshalb weiß, wie es dir gerade geht. Zu wem würdest du
gehen?
Festo Kivengere, der spätere anglikanische Bischof von Uganda,
beschreibt, wie er als junger Lehrer zum Glauben kam: "Als ich zu Hause
war, kniete ich nieder und öffnete mein armes Leben Jesus.Und er
kam hinein. In der ihm eigenen Art, in seiner wunderbaren Kreuzesliebe.
Das gerade brauchte ich. Gott kam zu mir nicht als Engel - dazu war ich
zu schlecht. Er kam nicht wie in einem Erdbeben - das hätte
mich erschreckt. Er kam blutend, denn ich blutete auch innerlich. Ich
brauchte verwundete Hände, die mein verwundetes Herz anrühren
und die Last meiner Sünde wegnehmen konnten. Ich brauchte ein
mitfühlendes Herz für mein einsames Herz. Und das fand ich in
Jesus. Er befreite mich. Ich war überwältigt davon, wie sehr
er mich liebte, obwohl ich ihn nicht gesucht hatte. Das hat ich
erschüttert, meinen Stolz geschmolzen, meine Sünden
weggenommen und mein Leben befreit. Danach stand ich auf und war so
aufgeregt, so beglückt, daß ich es jedem Afrikaner
erzählen wollte." (Festo Kivengere, Erneuerte Gemeinden, 1975, S.
53)
Ein verwundeter Heiland für ein verwundetes Herz - das bedeutet
es, wenn Jesaja den Messias hier als Knecht Gottes bezeichnet. Im
Hebräerbrief heißt es (Hebräer 4:15): "Denn wir haben
nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer
Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch
ohne Sünde." Ja - um die folgende trostreiche Botschaft zu
verstehen, müssen wir Jesus Christus als Knecht vor Augen haben,
als den armen, schwachen Gekreuzigten. Seine durchbohrten Hände
sind die richtigen für mich. Es sind die Hände, die ein
geknicktes Rohr nicht zerbrechen und einen glimmenden Docht nicht
auslöschen. Käme er in Macht und stolzer Herrlichkeit,
würden wir uns - in diesem Zustand - gar nicht getrauen, uns ihm
zu nähern. Aber er kommt als Knecht, als einer, der selbst "ganz
unten" war. Zu ihm können wir getrost kommen.
2. Das geknickte Rohr
Wir wollen nun versuchen, das auf verschiedene, notvolle Lebenslagen zu
übertragen, in die ein Christ kommen kann.
Unser Wort von Jesaja taucht ja im neuen Testament noch einmal auf, und
zwar im Matthäusevangelium (Matthäus 12:18-20). Jesus heilt
dort zuerst einen Menschen mit einer verdorrten Hand, am Sabbat, im
Gottesdienst, und sehr zum Ärger der Pharisäer. Danach heilt
er viele andere, und schließlich treibt er bei einem Besessenen
einen Dämon aus. Mittendrin steht unser Text, eingeleitet mit
"...damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten
Jesaja". Als ob gesagt wird: So ist er, der Messias, der Heiland. Er
hilft und heilt die Geknickten - hier sind es besonders die Kranken.
Nun gibt es allerdings - wie ich meine - eine noch viel schlimmere
"Krankheit" als die körperlichen Leiden. Und damit meine ich das
verwundete Gewissen. Ja, das verwundete Gewissen - das kann schmerzen.
Bei manchen kommt es erst anfänglich, allmählich. So wie bei
jenem reuigen Steuersünder in London. Der machte seinem
bedrückten Gewissen Luft mit einem anonymen Schreiben an das
Finanzamt: "Anbei ein Teil meiner Steuerschuld. Wenn ich die
kommende Nacht wieder nicht schlafen kann, erhalten Sie mehr." (aus:
Hört ein Gleichnis Nr. 158) Ernster war es bei jener Geschichte,
die sich tatsächlich in einer kleinen Stadt ereignet haben soll.
Ein paar Witzbolde erlaubten sich einen bösen Streich. Sie
schickten an drei prominente Bürger einen Brief ohne Unterschrift.
In diesen drei Briefen standen jeweils nur die vier Worte: "Es ist
alles herausgekommen." Sonst nichts. Was geschah? Einer von den dreien
nahm sich das Leben. Die beiden anderen verschwanden spurlos. Offenbar
hatten sie Furcht vor einer Anklage oder vor einem öffentlichen
Skandal. (aus: Hört ein Gleichnis Nr. 144)
Ja, wenn sich das Gewissen meldet. Dann hilft kein Vergessen und kein
Weglaufen. Da hilft nicht der Griff zur Flasche. Und auch kein
Therapeut - und wenn es der beste Psychologe der Welt wäre. Kein
Seelendoktor kann da etwas tun. Da kann nur einer helfen: Der
große "Arzt der Seelen", der Heiland Jesus Christus, der das
geknickte Rohr nicht zerbrechen wird - sondern es wieder aufrichten
kann. Aufrichten durch seine Vergebung. Aufrichten mit seinen
durchbohrten Händen.
Wenn wir die Evangelien anschauen, dann sehen wir es immer wieder, wie
der Heiland solche "geknickten Rohre" aufrichtet. Denken wir an die
Sünderin, über die wir vor kurzem gesprochen hatten (Lukas
7:36-50). Sie wusste genau, was ihr Gewissen drückt. "Geknickt"
über ihre Sünde war sie - o ja! Sie kam zu Jesus, weinend,
fiel zu seinen Füßen, salbte ihn mit Salböl. Und was
tut Jesus - sehr zum Ärger des anwesenden Pharisäers Simon?
Er sagt ihr: "Dir sind deine Sünden vergeben." Und: "Dein
Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!" So hat er sie nicht
zerbrochen, sondern aufgerichtet.
Kennst du auch diese Erfahrung, wie der arme, gekreuzigte Heiland? Der
Knecht Gottes? Wie er dein verwundetes Gewissen geheilt hat? Wie er dir
vergeben hat? Wohl dem, der das erfahren hat! Er soll diese
Erfahrung nicht vergessen - sondern immer wieder dankbar dafür
sein. Und wenn er wieder fällt - dann soll er sich erinnern,
wem er sein verwundetes Gewissen anvertrauen kann. Aber auch dann, wenn
du es noch nicht erfahren hast. Und wenn er dich ruft: Komm zu mir, mit
all dem, was dich drückt. Gib' mir all deine Schuld und
Sünde. Dann komm. Und wisse: Du kommst nicht zu einem stolzen
Herrn, der dir die Tür weist. Sondern du kommst zu einem blutenden
Heiland, der seine gekreuzigten Hände zu dir ausstreckt. Weil der
dich, das geknickte Rohr, wieder aufrichten will.
3. Der glimmende Docht
Den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen - so heißt es
weiter vom Heiland. Wie können wir das verstehen? Ich möchte
eine Auslegungsmöglichkeit herausgreifen.
"So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten
Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen." So sagt Jesus seinen
Jüngern, den Christen, in der Bergpredigt. Aber manchmal ist es
bei uns Christen mit dem weithin sichtbaren Licht unserer guten Werke
nicht weit her. (Matthäus 5:16) "Die Christen müssten mir
erlöster aussehen. Bessere Lieder müssten sie mir singen,
wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte." So hat schon der
Philosoph Friedrich Nietzsche über die Christen geurteilt." Ob er
damit so ganz unrecht hatte?
Ja - so manches Mal ist das Leben und der Glauben der Christen kein
weithin scheinendes Licht - sondern eher ein glimmender Docht. Da wird
der eine gleich kleinmütig und verzagt, wo er doch auf den Herrn
vertrauen sollte. Da gerät der andere in Zorn, wo er sich besser
beherrscht hätte. Da hält einer feige den Mund, wo er
für einen Mitmenschen seine Stimme hätte erheben sollen. Da
ist der Alkoholiker, der eigentlich durch Jesus frei geworden ist. Aber
dann, in einer schwachen Stunde, da greift er wieder zu. Und auch
in christlicher Gemeinschaft, etwa in christlichen Familien - da
gibt es zuweilen Zank und Streit. Und in den christlichen Gemeinden
böses Gerede "hintenherum" und was nicht sonst noch alles.
Sollte man da nicht einmal "so richtig aufräumen", in einer
Christenheit, die oft ein so schwaches Bild abgibt? Dann hätten
auch die Leute weniger Anstoß, die unsere gar nicht so guten
Werke sehen. Und sagen: Da schau her, ein Christ. Er will wohl etwas
Besseres sein - aber er tut das gleiche, wie jedermann sonst. Und
sonntags rennt er in die Kirche und faltet andächtig die
Hände. - Ja, hätten die Leute nicht weniger Anstoß,
wenn man einmal so richtig "aufräumen" würde? Weg mit den
glimmenden Dochten - nur die hell leuchtenden Lichter sollen noch
übrigbleiben! Diejenigen, die erlöster aussehen. Die
großen christlichen Vorbilder, die die Menschen bestaunen
können.
Immer wieder kamen Menschen aus dem Volk Gottes auf solche Gedanken,
und setzten sie in die Praxis um. Das bekannteste Beispiel aus der
Vergangenheit sind vielleicht die Pharisäer. Sie wollten für
Ordnung sorgen in ihrem Volk - hart, aber gerecht. Und in
Übereinstimmung mit dem Wort Gottes, wie sie meinten. Denken
wir an die Ehebrecherin, die sie steinigen lassen wollten (Johannes
8:1-11). Jesus konnte seinerzeit dieses "Ordnungsstreben" gerade noch
so verhindern. Indem er sie bei ihrem eigenen Gewissen packte.
Ja - wie geht eigentlich Jesus damit um, wenn seine Christen oft ein so
schwaches Bild abgeben? Denken wir etwa an Petrus. Seit Jesus ihn von
den Netzen weggerufen hatte, war er ein Jünger. Ein eifriger,
gläubiger Christ, sozusagen. Aber als es darauf ankam, und
sie Jesus wegführten, zum Gerichtsprozeß, und zum Gang ans
Kreuz. Da verließ ihn der Mut, und er verleugnete Jesus dreimal.
Als er merkte, was er getan hatte, konnte er nur noch bitterlich
weinen. (z.B. Lukas 22:54-62).
Doch was tut Jesus, als er Petrus nach seiner Auferstehung wiedersieht?
(Johannes 21:15-17) Weist er diesem Versager die Tür? Dreimal
fragt er ihn: Hast du mich lieb? Und Petrus beteuert es, aufrichtig: Ja
Herr, das weißt du doch. Da sagt Jesus ihm nur: Weide meine
Schafe! Und damit sagt er Petrus nicht nur, dass er ihm vergeben hat.
Sondern er gibt ihm zugleich eine höchst verantwortungsvolle
Aufgabe: Die Leitung der ersten christlichen Gemeinde. Ob Petrus sich
erinnert hat, was Jesus ihm früher einmal sagte: "Ich aber habe
für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre."
(Lukas 22:32) ? Ja - Jesus hat diesen "glimmenden Glaubensdocht" bei
Petrus nicht ausgelöscht. Er hat nicht mit ihm "aufgeräumt".
Sondern er hatte unendlich viel Geduld mit ihm. Wie auch später
noch. Denn das war nicht die letzte Schuld, mit der Petrus zu seinem
Herrn und Heiland kommen musste.
Ja - es ist schon erstaunlich, wie viel Geduld der Herr mit seinen
Christen hat. Mit denen, wo er den "Glaubensdocht" einmal
angezündet hat. Die lässt er nicht einfach fallen -
selbst dann, wenn das Glaubenslicht gerade "auf Sparflamme" brennt.
Oder wenn es gar nur noch ein schwaches Glimmen ist. Ob uns das nicht
Mut machen kann als Christen? Selbst dann, wenn wir straucheln und
versagen. Selbst dann, wenn Nichtchristen auf uns mit Fingern zeigen,
und sagen: Schau, was der getan hat - und der will ein Christ sein.
Selbst dann. Ja - gerade dann! Hält unser Heiland zu uns. Und er
erinnert uns: Denke daran, dass ich ein Knecht geworden bin. Denke
daran, wie ich, der Herr der Welt. Wie ich ganz schwach geworden bin
für dich, am Kreuz. Und wenn du, mein Kind, in Schwachheit und
Sünde gefallen bist. Dann fass' wieder Mut, und komm zu mir. Komm
zu mir, wie du bist - nicht als Sieger, sondern als Sünder. Ich
werde den glimmenden Docht nicht auslöschen.
Ja Geschwister - lasst uns zu ihm kommen. Lasst uns bei ihm bleiben.
Alle die geknickten Rohre und die glimmenden Dochte. Alle mit einem
verwundeten Gewissen. Bleiben bei Jesus, dem Knecht Gottes. Bleiben bei
dem verwundeten Heiland, der sich seine Hände durchbohren
ließ - für mich. Das geknickte Rohr wird er nicht
zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Amen.
zurück zur
Übersicht