Gott lässt sich nicht verrechnen - Predigt über Johannes 9,1-7

9:1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Liebe Geschwister,
unser Herr lässt sich nicht "verrechnen". Er lässt sich nicht vor den Karren unserer Vorstellungen spannen. Und doch kommt immer wieder seine unverdiente Zuwendung zu uns zum Vorschein. Seine Gnade. Seine Liebe, die uns zwar nicht alles verstehen lässt. Seine Liebe, die uns aber allen Grund gibt. Allen Grund, ihm grenzenlos zu vertrauen.
In dieser Predigt möchte ich Stück für Stück dem Bericht nachgehen. Den Text in der Abfolge betrachten, wie sich damals alles ereignet hat.

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.

Ein Mensch befindet sich in einer zutiefst misslichen Lage. Ja, in einer aussichtslosen Lage, die ich mir lieber nicht vorstellen mag. Denn in einer Zeit ohne staatliche Hilfe für Blinde. Ohne Blindengeld. Ohne Blindenschulen. Ohne spezielle Förderungsmaßnahmen, durch die ein Blinder sogar einem ganz normalen Beruf nachgehen kann. Ohne das alles - da war man vom Leben wahrhaftig "abgehängt". Was blieb, außer am Straßenrand zu sitzen und zu betteln? Tag für Tag? Jahr für Jahr? Und immer abhängig von anderen, die einem halfen - oder eben auch nicht.
Jesus sieht einen Menschen, der blind geboren war. Das ist das erste, was wir hier von Jesus erfahren: Er sieht. Er sieht diesen armen Menschen. Und er schenkt ihm nicht nur einen oberflächlichen Blick. Sondern aus dem weiteren Geschehen wissen wir: Jesus hat etwas Wunderbares mit ihm vor. Etwas, das sein Leben gleichsam noch einmal von vorne beginnen lässt.
Jesus sieht den Blinden. Jesus sieht mich. Jesus sieht dich. Jesus sieht dich - mit allem, was dazu gehört. Er sieht alles, was dich freut. Oder was dich überglücklich werden lässt. Aber er sieht auch alles, was dir Not bereitet. Er sieht selbst das, wo du schon alle Hoffnung aufgegeben hast. Wo du gesagt hast: Das wird nichts mehr, da kann sich nichts mehr ändern. Auch das sieht Jesus. Und er sieht es nicht nur oberflächlich. Sondern er sieht es mit all dem zusammen, was er mit dir noch vorhat. Vielleicht, so dachte ich. Vielleicht sollte ich öfter darüber nachdenken, dass Jesus mich sieht. Er geht nicht einfach vorüber. Sondern er bleibt stehen. Und sieht. Was macht dieser Gedanke mit dir? Dass Jesus dich sieht?

2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?

Ist das nicht eine zutiefst menschliche Frage? Die Frage: Bekommt jeder das, was er verdient? Natürlich wird sie heute kaum noch einer in dieser Form stellen. Aber wir kennen die Frage in unzähligen anderen Varianten: Wenn es einen Gott gibt - warum lässt er all das Unglück in der Welt zu? Und warum trifft es oft die Falschen? Die Ärmsten der Armen, die ein kleines Stück Land haben, das sie und ihre Familie gerade so ernährt. Die werden von der Gewalt der Natur getroffen. Und ein Sommer ohne Wasser, mit endlosem, heißem Wind. Er lässt das letzte Pflänzchen verdorren, und nichts bleibt. Aber die reichen Familien ihres Landes, die alles für sich behalten. Sie füllen weiterhin ihre Kühlschränke, und feiern ihre Feste. Ist das gerecht? Kann ein gerechter Gott so etwas zulassen?
Aber es geht auch weniger dramatisch. Und dass der Ehrliche immer wieder der Dumme ist. Das wissen wir. Und der, der das "Elfte Gebot" beherzigt. Ihr kennt das Gebot? - "Lass dich nicht erwischen." Der sichert sich so manches Schnäppchen des Lebens, und lächelt über die, die sich beim Elften Gebot ein Gewissen machen.
Und sicher kennt auch mancher von uns Christen. Vielleicht solche, die uns Vorbilder im Glauben sind. Die hören eines Tages die Diagnose des Arztes: Ich will ehrlich zu Ihnen sein - nach den Regeln meiner Kunst kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Und eine Welt bricht zusammen, und der Glaube kommt ins Schlittern. Warum ich? Was habe ich getan? Herr, kannst du mich nicht noch einmal verschonen?
Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Man könnte fast denken: Gott hätte es leichter bei den Menschen, wenn er diese Frage wie gewünscht beantworten würde. Einen Gott, der die Bösen bestraft und die Guten belohnt. So, dass es jedermann sehen und nachvollziehen kann. Ja, für einen solchen Gott hätte man noch Verwendung. Den könnte man verstehen. Und man könnte ihm seinen Platz zuweisen. Er wäre eine berechenbare Größe - so lange er sich an unsere Regeln hält.
Ich will damit nicht bestreiten, dass Gott böse Menschen bestraft, und dass böse Menschen allen Grund haben, sich vor Gott zu fürchten. Sein eigenes Volk - Israel - ist das beste Beispiel dafür. Als sie nicht aufhörten, neben ihrem Gott auch die Götzen ihrer Nachbarvölker anzubeten. Als sie nicht aufhörten, die Armen und Ärmsten ihres eigenen Volkes zu auszubeuten. Da ließ Gott sie von ihrem gefährlichsten Feind - von den Babylonieren - überrennen. Jerusalem wurde dem Erdboden gleichgemacht, und fast alle wurden ins Exil verschleppt. Genau diesen Zusammenhang herauszuarbeiten - das ist die Botschaft der Propheten, von Jesaja, von Jeremia, von Amos, und von all den anderen.
Ich will damit auch nicht bestreiten, dass Gott ein gläubiges, gottesfürchtiges Leben segnet. Denken wir an Abraham, der immer wieder auf Gott vertraut hat. Der ihm gehorcht hat, bis zum Äußersten, sogar, als Gott ihm seinen eigenen Sohn Isaak nehmen wollte (lies 1. Mose 22). Abraham war nicht fehlerlos, keineswegs. Aber die Grundlinie stimmte - ein Leben ganz im Vertrauen auf den Herrn. Und deshalb wurde er gesegnet, ja er wurde reich, er wurde steinalt, und er starb schließlich alt und lebenssatt. Das ist die Botschaft im ersten Buch Mose, das ausführlich von Abraham und seiner Familie berichtet.
Gott handelt so - aber deshalb lässt er sich noch lange nicht vom Menschen Vorschriften machen. Er nimmt sich die Freiheit, dass man ihn - den Herrn aller Herren. Dass man ihn nicht immer versteht. Und dass er sich schon gar nicht vor dem Menschen rechtfertigen muss. Es steht dem Menschen schlecht an, sich auf den Richterstuhl zu setzen und ein Urteil über den Herrn zu sprechen. Über den Herrn, von dem es im Glaubensbekenntnis heißt: Er. Er - wohlgemerkt, er, nicht der Mensch. Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten.
Und so wendet sich Jesus hier zu seinen Jüngern:

3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern...

Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Vielleicht ist das einer der wichtigsten Bibelverse, die man in eine hilfreiche Seelsorge mitzunehmen hat. Denn dieser Satz bewahrt uns nicht nur davor, Gott auf die Anklagebank zu setzen - weil er sich nicht mit unseren Vorstellungen verrechnen lässt. Sondern er hilft auch, wenn angefochtene Mitchristen dabei sind, in ein tiefes Loch der Verzweiflung zu fallen. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass ein Mensch sich ehrlich eingestehen muss: Was ich gerade auszulöffeln habe, das habe ich mir selbst eingebrockt. Hätte ich doch einmal auf Gott gehört. Wohl dem, der dann zu so viel Ehrlichkeit findet! Ganz so einfach ist der Zusammenhang aber oft nicht. Und du fragst dich. Und du fragst Gott. Was habe ich falsch gemacht? Wofür werde ich bestraft?
Es gab und es gibt unter manchen Christen die Auffassung, dass ich in einem solchen Fall nur eines tun kann: Ich muss in mich gehen. Ich muss noch mehr erforschen, wo tief in mir verborgen die bösen Gedanken und Gefühle stecken. Ich muss meine Vergangenheit durchforsten, so weit ich mich erinnern kann. Wo gibt es unentdeckte Schuld, die noch nicht bereinigt ist? Wo sind Verletzungen, die ich anderen zugefügt habe? Wo sind Verletzungen, die andere mir zugefügt haben? Ans Licht damit, und vor Gott gebracht! Wenn ich wirklich "klar Schiff" gemacht habe, dann wird es mir auch wieder besser gehen.
So etwas passt gut in eine Zeit wie heute, wo fast jeder ein wenig psychoanalytisches Heimwerkerwissen angesammelt hat. Oder hast du noch nie gehört, wie man sagt: Der oder die "verdrängt" etwas, und das macht ihm Probleme. Nur heraus damit, dann geht es wieder.
Ist das auch so in meiner Beziehung zu Gott so? Muss ich erst wühlen, was ich so alles an Problemen, Bosheit und unbereinigten Verletzungen in mir herumtrage und "verdränge"? Da tut es gut zu wissen, dass Jesus die Sache hier ganz anders angeht: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Da wird alles Wühlen in mir selbst und in meiner Vergangenheit müßig. Denn Jesus streicht es einfach durch und sagt: Das ist nicht der Punkt.
So etwas kann sehr hilfreich sein in einer seelsorgerlichen Begegnung. Wenn ich sehe, wie ein Mensch vor lauter Verzweiflung mit solcher Wühlarbeit angefangen hat. Da tut es gut, wenn ich einen solchen Satz weitergeben kann: Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern. Hör' auf damit, dir den Kopf über die falsche Frage zu zerbrechen! Und sieh, wie Jesus damit umgeht: Er streicht die Frage einfach durch. So etwas kann außerordentlich befreiend sein. Weg von der Wühlarbeit - hin zu Jesus.
Und Jesus fährt fort:

...sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

Ja, was ist denn nun die richtige Antwort Jesu? Nachdem er die falsche Frage durchgestrichen hat? Ich habe Verschiedenes überlegt und gelesen zu dem Satz: Sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Ist das eine Antwort auf die verschiedenen Fragen, die bisher aufgetaucht sind? Am meisten hat mir folgende Erklärung eingeleuchtet:
Genau genommen zeigt sich das Wirken Gottes an dem Blinden auf doppelte Weise. Zum Einen bezieht es sich auf die Zeit bis jetzt. Die Zeit der Blindheit mit all ihrem Elend. Kann ich da das Wirken Gottes sehen? Ja - aber vielleicht nicht so, wie ich es mir wünsche. Denn wir leben in einer Zeit, wo man manchmal den Eindruck hat: Der Mensch scheint so etwas wie ein Recht auf ein gutes Leben zu beanspruchen. Er hat ein Recht darauf, gesund, gebildet, finanzkräftig zu sein, er hat ein Recht auf erfüllte, glückliche Beziehungen, ein Recht auf die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit, und, und, und... Und wenn ihm dieses Recht nicht gewährt wird, dann begehrt er auf. Er beschwert sich. Und wenn er kein Atheist ist, dann beschwert er sich nicht nur bei den Mitmenschen und bei seiner Regierung - sondern er beschwert sich auch bei dem, den er für seinen Gott hält. Gott, wie kannst du mir nur mein Recht vorenthalten? Das darfst du nicht. Das ist einfach ungerecht.
Es ist bemerkenswert, dass hier nirgends etwas von dieser Haltung bei dem Blindgeborenen sichtbar wird. Dabei steht doch Gott gleichsam direkt vor ihm - in der Person Jesu Christi. Hier hätte er seine Beschwerde in höchster Instanz anbringen können. Und er tut es nicht. Ob er in aller Schlichtheit etwas von diesen Zusammenhängen ahnt? Die Werke Gottes werden offenbar. Das kann manchmal eine wichtige Glaubenserfahrung bedeuten: Auch wenn ich denke, Gott enthält mir etwas vor. Etwas, das ich für mein gutes Recht halte. Trotzdem ist das kein Grund, mich wütend von Gott abzuwenden. Trotzig, wie das kleine Kind, das mit dem Fuß aufstampft und sich beleidigt wegdreht. Weil es nicht sofort bekommt, wonach es gequengelt hat.
Die Werke Gottes werden offenbar: Das heißt zum Anderen aber auch - und vor allem - dass ich von seiner unverdienten Zuwendung, von seiner Gnade überrascht werde:

6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Das muss eine unglaubliche Erfahrung für den Blinden gewesen sein. Er hatte Jesus ja nicht einmal darum gebeten, dass er ihn heilt. Und jetzt bekommt er mehr, als er sich erträumen konnte. Nach all den Jahren. Endlich. Als Jesus ihn sieht, am Anfang. Da wusste er schon, was er mit diesem armen Menschen vorhat. Er kannte seine elende Vergangenheit. Und er sah seine neue Zukunft. Als Mensch, der sehen kann, so, wie all die anderen um ihn herum auch. Die Werke Gottes werden offenbar. Das kann auch etwas ganz Neues, Wunderbares sein. Etwas, das ich nie gewagt hätte zu hoffen.
Es ist ja recht bemerkenswert, wie das Ganze hier abläuft. Mit einem merkwürdigen Schlamm, von Jesus zubereitet. Mit einer Waschung in einem bestimmten Teich. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, was das im Einzelnen bedeuten könnte. Die Auslegung dieses Textes in der Vergangenheit zeigt, dass man hier schnell in Spekulationen gerät.
Viel interessanter finde ich das Verhalten des Blinden. Und das versteht man ohne alle Spekulation. Jesus gibt ihm eine Anweisung, die er sicher nicht wirklich verstanden hat: Geh und wasche dich! Aber der Blinde fragt nicht nach Argumenten, er wägt nicht das Für und Wider ab. Sondern er vertraut einfach auf das Wort Jesu. Er tut, was Jesus ihm sagt. "Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder." Und sein Vertrauen auf Jesus wird nicht enttäuscht.
Wenn das das Fazit ist, das ich auch für mich persönlich mit nach Hause nehme. Dann ist das Wichtigste schon getan. Ja - unser Herr ist manchmal schier nicht zu verstehen. Er lässt sich nicht einfach mit meinen Vorstellungen verrechnen. Und die Frage "Wer hat gesündigt?", oder: Bekommt jeder das, was er verdient? Sie führt manchmal zu nichts. Er, der Herr. Er lässt sich von mir nicht zwingen, nicht anklagen. Und doch überrascht er mich immer wieder mit seiner unverdienten Liebe und Zuwendung. Er sieht mich, und er hat etwas vor mit mir. Am besten, ich mache es wie der Blinde. Und vertraue einfach auf sein Wort. Selbst dann, wenn ich nicht alles begreife. "Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder." Amen.

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