Du bist ein Gott, der mich sieht.
(1. Mose 16,13)
Liebe Gemeinde,
wenn Gott mich ansieht, dann wird mein Leben neu. "Du bist ein Gott,
der mich sieht." Wenn ich wirklich erkenne, was das für mich
bedeutet, dann wird tatsächlich mein Leben vom Kopf auf die
Füße gestellt. Und ich lebe - im Vertrauen auf ihn.
"Du bist ein Gott, der mich sieht." Dieser Satz ist so kurz und
schön, dass man eigentlich auf Anhieb eine Andacht dazu halten
könnte, oder eine Trostpostkarte malen - wenn man dafür
begabt ist. Leider liegt in dieser einprägsamen Kürze auch
eine Gefahr: Das einem dabei die mehr oder weniger fromme Phantasie
durchgeht. Nachdem ich - Google folgend - zwei große evangelische
Medien dazu konsultiert hatte, konnte ich mich nur noch
kopfschüttelnd abwenden. Erstaunlich, was man alles in den Text
hineinlesen kann, von der Stellung der Frau in der Gesellschaft, bis
hin zu einer Versöhnung zwischen den Religionen.
Damit uns so etwas nicht auch passiert, müssen wir zuerst den
Zusammenhang verstehen, in dem dieser Satz gesagt wird. Ich lade euch
deshalb am Beginn zu einer Reise in den Nahen Osten ein, einige
Flugstunden von hier entfernt. Wir gehen dabei zurück in eine
Zeit, die Jahrtausende zurückliegt. In dieser Welt lebten Abraham
und seine Frau Sara, die zuerst noch Abram und Sarai genannt werden.
Abraham lebte in einer Gesellschaft, in der man viele Götter
verehrte. Aus dieser Umgebung heraus rief ihn Jahwe, der lebendige und
einzige Gott: "Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft
und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will." (1.
Mose 12:1)
Abraham war das, was man heute einen "etablierten Mann" nennen
würde. Er hatte einen Großbetrieb zur Viehzucht, mit vielen
Angestellten. Als Nomade war er mit seiner Frau Sara und dem Rest
seiner Familie immer an verschiedenen Orten. Bei den Zelten, in denen
er dabei lebte, sollten wir nicht an einen Campingurlaub denken,
sondern eher an eine mobile Luxusvilla. Der Ruf Gottes, seine gewohnte
Umgebung mit Haus und Hof zu verlassen, barg auf den ersten Blick ein
großes Risiko in sich. Aber Abraham vertraute Gott, und der
enttäuschte sein Vertrauen nicht. Im Kapitel 15, direkt vor
unserem Predigttext, lesen wir von einem großartigen Versprechen
Gottes an ihn: "Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du
sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine
Nachkommen sein! (1. Mose 15:5)
Abraham sollte der Gründer eines großen Volkes werden. Doch
es gab ein Problem: Abraham war zu diesem Zeitpunkt etwa 85 Jahre alt,
und auch seine Frau Sara war schon lange nicht mehr im
gebärfähigen Alter. Sara wird nicht schwanger, ein Nachkomme
ist nicht in Sicht, und schließlich wird ihnen die Zeit zu lang.
Sara schlägt Abraham vor, ihre Magd Hagar zur Frau zu nehmen. Man
muss wissen: Zu alttestamentlichen Zeiten war es nicht
ungewöhnlich, wenn ein Mann mehr als eine Frau hatte. Hagar wird
tatsächlich schwanger von Abraham und bringt den Jungen Ismael auf
die Welt.
Leider kann Hagar nicht gut mit ihrem Glück umgehen, und
das ländliche Drama nimmt seinen Lauf. Wenn wir das Ganze auf
einen
großen Hof in neuerer Zeit verlegen würden, könnte man
sagen: Hagar spielt sich auf, als wäre sie jetzt die Bäuerin,
und der Hof gehört ihr. "Als sie nun sah, dass sie schwanger war,
achtete sie ihre Herrin gering." (1. Mose 16:4) Immerhin hat sie den
Hoferben zur Welt gebracht. Es ist völlig klar, dass Sara sich das
nicht bieten lassen kann, und sie weist Hagar in die Schranken, mit
ausdrücklicher Billigung Abrahams.
Statt zur Besinnung zu kommen, nimmt Hagar ihren kleinen Sohn und
flieht in die Wüste. Doch Jahwe, dem lebendigen Gott, liegt etwas
an Hagar. Er schickt ihr einen Engel hinterher. Und Hagar macht
sich wieder auf den Rückweg. "Und sie nannte den Namen des HERRN,
der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht." (1. Mose 16:13)
So fasst sie anschließend ihre Erfahrungen mit dem lebendigen
Gott zusammen. Wir werden sehen: Wir brauchen diesen langen Vorspann,
um zu verstehen, worum es bei unserer neuen Jahreslosung wirklich geht.
Und dass dieser Vers etwas Entscheidendes über das Wesen Gottes
aussagt, sowohl über seinen Ernst, als auch über seine
Güte und Liebe.
Im 139. Psalm betet König David: "Ich sitze oder stehe auf, so
weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder
liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege." (Psalm 139:2-3)
Nicht jedem ist wohl bei diesem Gedanken. Stellt euch vor, es
hätte einen unglaublichen Durchbruch in der Hirnforschung gegeben.
Freiwillige werden gesucht, um die neuen Geräte zu testen. Viel
Geld wird geboten, und so meldest du dich. Im Institut angekommen,
bittet man dich in ein Labor, platziert dich auf einem Stuhl und setzt
dir einen Helm auf. Und auf einmal kann man auf dem Bildschirm alles
erkennen, was in deinem Kopf und in deinen Gedanken vorgeht.
Hirnströme werden in Bilder verwandelt. Interessant, interessant,
was dort alles zu sehen ist. Bis dann... Das darf doch nicht wahr sein!
Das kann man also auch sehen? Bevor du vor Scham in den Boden
versinkst, reißt du dir den Helm vom Kopf, das Bild versinkt im
Schnee, und der Test ist beendet. Hier wirst du dich nicht mehr als
Freiwilliger melden, und das Geld können sie behalten.
Ob jemals ein solcher Apparat erfunden wird, wie ich ihn gerade
beschrieben habe. Das bezweifle ich. Aber dass der lebendige Gott so
etwas kann. Das steht außer Frage. "Ich sitze oder stehe auf, so
weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne." Und so
konnte er auch verstehen, was damals im Herzen von Hagar vorging. Als
sie sich vor Sara aufspielte in einer Weise, die ihrer Stellung
gänzlich unangemessen war. Wir merken das an den ersten Worten,
die der Engel an sie richtet, als er sie in der Wüste findet. Er
sagt ihr nicht: Du Ärmste, hat die Hauptfrau deines Mannes und
Chefin dich so gemobbt, dass dir nur noch die Flucht blieb? Gott sieht,
was für ein großes Unrecht dir geschehen ist. Nein, er
stellt sie zunächst zur Rede, erinnert sie an ihre Stellung:
"Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?" Und dann
sagt er ihr: "Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich
unter ihre Hand." (1. Mose 16:8-9)
Gott kann das tun, weil er den Dingen auf den Grund geht. Er sieht
mehr, als wir Menschen sehen. Er deckt verborgene Gedanken und Motive
auf. Auch die, über die wir gerne einen Mantel des Schweigens
decken. Nachdem Hagar sich auf den Rückweg gemacht hat, ist ihr
das auch klar. Und als sie bekennt: "Du bist ein Gott, der mich sieht."
Da gibt sie zu: Du, Herr, siehst manchmal tiefer, als mir lieb ist.
Aber gerade deshalb nehme ich dich ernst. Dieser Gedanke taugt
vielleicht nicht für eine Trostpostkarte. Er durchkreuzt
vielleicht meine religiösen Wünsche und Phantasien. Das mag
sein. Aber ich kann damit Gott so erkennen, wie er wirklich ist.
Gott liebt uns so sehr, dass er uns manchmal regelrecht hinterher
läuft. So geschieht das auch im Fall von Hagar. Hagar ist ihm
nicht egal, obwohl sie falsche Wege gegangen ist. Und so schickt er ihr
einen Engel, der sie in ihrer schwierigen Lage aufsucht. Das
Erstaunliche ist: Wir lesen nicht einmal, dass Hagar in ihrer Not
gebetet hat. Der Engel kommt zu ihr unaufgefordert. Und er richtet ihr
ein Versprechen Gottes aus: "Ich will deine Nachkommen so mehren, dass
sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden
können." (1. Mose 16:10) Das heißt: Obwohl ihr Sohn Ismael
nicht der verheißene Erbe für Abraham ist. So hat sie doch
Teil an seinem Segen. Als Teil der Familie von Abraham hat auch sie
eine Zukunft, weil Gott nach ihr sieht.
Ich denke, wir vergessen das viel zu oft, auch als Christen: Dass Gott
nach uns sieht. Man sieht auf die Zukunft. Auf das Jahr, das vor uns
steht. Und das Herz ist voller Sorgen: Was wird da noch alles auf mich
zukommen, das kann doch nichts werden. Und vielleicht vergisst man
darüber sogar das Beten, so wie Hagar. Dann brauchen wir Worte wie
die von Jesus, in der Bergpredigt: "Darum sollt ihr nicht sorgen und
sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir
uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer
Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft." (Matt. 6:31-32) Du
bist ein Gott, der mich sieht. Mit seinem liebevollen Blick. Und sich
kümmert.
Ich möchte aber noch einen Schritt weiter gehen. Denn Gott sieht
nicht nur die ganz irdischen, praktischen Nöte, die uns immer
wieder zu schaffen machen. Er sieht vor allem unsere größte
Not: Die Sündennot. Als Hagar mit ihrem Sohn in die Wüste
flieht. Da flieht sie nicht nur vor ihrer Herrin Sara. Sie flieht auch
vor Gott. Ich denke, diese Art von Vermeidungsstrategie ist uns
geläufig. Ich habe etwas getan, das im Widerspruch zu Gottes
Willen und seinen Geboten steht. Doch statt die Sache in Ordnung zu
bringen und Gottes Vergebung zu suchen. Laufe ich vor dem Problem weg,
stürze mich vielleicht in allerlei Arbeit und Aktivität, und
hoffe, dass mein Gewissen mich dann in Ruhe lässt. Wie gut, dass
Gott auch dann nach mir sieht, und mir manchmal sogar hinterher
läuft.
Der "Engel des Herrn", der Hagar hinterhergeschickt wird, ist im Alten
Testament ein fest geprägter Ausdruck. Manche Ausleger sehen darin
einen Hinweis auf Jesus, der schon immer existierte. Der Gott war,
bevor er ein Mensch wurde und in einem Stall zur Welt kam. Warum kam er
in diese Welt? Weil Gott unsere größte Not, die
Sündennot, gesehen hat. Und wisst ihr, wo der Engel des Herrn
wieder auftaucht? Im Zusammenhang mit der Weihnachtsgeschichte. Als
Maria schwanger ist, da erscheint ihrem Verlobten Josef ebenfalls der
Engel des Herrn (Matthäus 1:19-25). Und er sagt ihm über
Maria: "... sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen
Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden."
(Matthäus 1:21)
Für Hagar, damals vor Tausenden von Jahren, waren diese
Zusammenhänge noch verborgen. Wir dagegen wissen es: Jesus ist in
die Welt gekommen, als Kind in der Krippe. Als Mann am Kreuz, der
für unsere Sünden starb. Und so können wir unsere
Vermeidungsstrategien lassen. Wenn Gott mich angesehen hat, mit seinem
durchdringenden Blick. Und ich erschrecke, weil er auch meine
Abgründe durchschaut, und sieht, was kein Mensch wissen darf. Dann
weiß ich, wo ich Hilfe und Vergebung finde: Bei Jesus, der
gekommen ist, um mich zu retten von meinen Sünden.
Ja, es es wirklich so: Wenn Gott mich ansieht, dann wird mein Leben
neu. Dann fasse ich Vertrauen. Dann lasse ich das Sorgen um die
Zukunft. Dann finde ich Frieden mit Gott. "Du bist ein Gott, der mich
sieht." Amen.