Du bist ein Gott, der mich sieht - Predigt zu Silvester über die Jahreslosung 2023

Du bist ein Gott, der mich sieht. (1. Mose 16,13)

Liebe Gemeinde,
wenn Gott mich ansieht, dann wird mein Leben neu. "Du bist ein Gott, der mich sieht." Wenn ich wirklich erkenne, was das für mich bedeutet, dann wird tatsächlich mein Leben vom Kopf auf die Füße gestellt. Und ich lebe - im Vertrauen auf ihn.

1. Einführung und Hintergründe

"Du bist ein Gott, der mich sieht." Dieser Satz ist so kurz und schön, dass man eigentlich auf Anhieb eine Andacht dazu halten könnte, oder eine Trostpostkarte malen - wenn man dafür begabt ist. Leider liegt in dieser einprägsamen Kürze auch eine Gefahr: Dass einem dabei die mehr oder weniger fromme Phantasie durchgeht. Nachdem ich - Google folgend - zwei große evangelische Medien dazu konsultiert hatte, konnte ich mich nur noch kopfschüttelnd abwenden. Erstaunlich, was man alles in den Text hineinlesen kann, von der Stellung der Frau in der Gesellschaft, bis hin zu einer Versöhnung zwischen den Religionen.
Damit uns so etwas nicht auch passiert, müssen wir zuerst den Zusammenhang verstehen, in dem dieser Satz gesagt wird. Ich lade euch deshalb am Beginn zu einer Reise in den Nahen Osten ein, einige Flugstunden von hier entfernt. Wir gehen dabei zurück in eine Zeit, die Jahrtausende zurückliegt. In dieser Welt lebten Abraham und seine Frau Sara, die zuerst noch Abram und Sarai genannt werden. Abraham lebte in einer Gesellschaft, in der man viele Götter verehrte. Aus dieser Umgebung heraus rief ihn Jahwe, der lebendige und einzige Gott: "Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will." (1. Mose 12:1)
Abraham war das, was man heute einen "etablierten Mann" nennen würde. Er hatte einen Großbetrieb zur Viehzucht, mit vielen Angestellten. Als Nomade war er mit seiner Frau Sara und dem Rest seiner Familie immer an verschiedenen Orten. Bei den Zelten, in denen er dabei lebte, sollten wir nicht an einen Campingurlaub denken, sondern eher an eine mobile Luxusvilla. Der Ruf Gottes, seine gewohnte Umgebung mit Haus und Hof zu verlassen, barg auf den ersten Blick ein großes Risiko in sich. Aber Abraham vertraute Gott, und der enttäuschte sein Vertrauen nicht. Im Kapitel 15, direkt vor unserem Predigttext, lesen wir von einem großartigen Versprechen Gottes an ihn: "Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein! (1. Mose 15:5)
Abraham sollte der Gründer eines großen Volkes werden. Doch es gab ein Problem: Abraham war zu diesem Zeitpunkt etwa 85 Jahre alt, und auch seine Frau Sara war schon lange nicht mehr im gebärfähigen Alter. Sara wird nicht schwanger, ein Nachkomme ist nicht in Sicht, und schließlich wird ihnen die Zeit zu lang. Sara schlägt Abraham vor, ihre Magd Hagar zur Frau zu nehmen. Man muss wissen: Zu alttestamentlichen Zeiten war es nicht ungewöhnlich, wenn ein Mann mehr als eine Frau hatte. Hagar wird tatsächlich schwanger von Abraham und bringt den Jungen Ismael auf die Welt.
Leider kann Hagar nicht gut mit ihrem Glück umgehen, und das ländliche Drama nimmt seinen Lauf. Wenn wir das Ganze auf einen großen Hof in neuerer Zeit verlegen würden, könnte man sagen: Hagar spielt sich auf, als wäre sie jetzt die Bäuerin, und der Hof gehörte ihr. "Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering." (1. Mose 16:4) Immerhin hat sie den Hoferben zur Welt gebracht. Es ist völlig klar, dass Sara sich das nicht bieten lassen kann, und sie weist Hagar in die Schranken, mit ausdrücklicher Billigung Abrahams.
Statt zur Besinnung zu kommen, nimmt Hagar ihren kleinen Sohn und flieht in die Wüste. Doch Jahwe, dem lebendigen Gott, liegt etwas an Hagar. Er schickt ihr einen Engel hinterher. Und Hagar  macht sich wieder auf den Rückweg. "Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht." (1. Mose 16:13) So fasst sie anschließend ihre Erfahrungen mit dem lebendigen Gott zusammen. Wir werden sehen: Wir brauchen diesen langen Vorspann, um zu verstehen, worum es bei der Jahreslosung wirklich geht. Und dass dieser Vers etwas Entscheidendes über das Wesen Gottes aussagt, sowohl über seinen Ernst, als auch über seine Güte und Liebe.

2. Gottes durchdringender Blick

Im 139. Psalm betet König David: "Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege." (Psalm 139:2-3) Nicht jedem ist wohl bei diesem Gedanken. Stellt euch vor, es hätte einen unglaublichen Durchbruch in der Hirnforschung gegeben. Freiwillige werden gesucht, um die neuen Geräte zu testen. Viel Geld wird geboten, und so meldest du dich. Im Institut angekommen, bittet man dich in ein Labor, platziert dich auf einem Stuhl und setzt dir einen Helm auf. Und auf einmal kann man auf dem Bildschirm alles erkennen, was in deinem Kopf und in deinen Gedanken vorgeht. Hirnströme werden in Bilder verwandelt. Interessant, interessant, was dort alles zu sehen ist. Bis dann... Das darf doch nicht wahr sein! Das kann man also auch sehen? Bevor du vor Scham in den Boden versinkst, reißt du dir den Helm vom Kopf, das Bild versinkt im Schnee, und der Test ist beendet. Hier wirst du dich nicht mehr als Freiwilliger melden, und das Geld können sie behalten.
Ob jemals ein solcher Apparat erfunden wird, wie ich ihn gerade beschrieben habe. Das bezweifle ich. Aber dass der lebendige Gott so etwas kann. Das steht außer Frage. "Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne." Und so konnte er auch verstehen, was damals im Herzen von Hagar vorging. Als sie sich vor Sara aufspielte in einer Weise, die ihrer Stellung gänzlich unangemessen war. Wir merken das an den ersten Worten, die der Engel an sie richtet, als er sie in der Wüste findet. Er sagt ihr nicht: Du Ärmste, hat die Hauptfrau deines Mannes und Chefin dich so gemobbt, dass dir nur noch die Flucht blieb? Gott sieht, was für ein großes Unrecht dir geschehen ist. Nein, er stellt sie zunächst zur Rede, erinnert sie an ihre Stellung: "Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?" Und dann sagt er ihr: "Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand." (1. Mose 16:8-9)
Gott kann das tun, weil er den Dingen auf den Grund geht. Er sieht mehr, als wir Menschen sehen. Er deckt verborgene Gedanken und Motive auf. Auch die, über die wir gerne einen Mantel des Schweigens decken. Nachdem Hagar sich auf den Rückweg gemacht hat, ist ihr das auch klar. Und als sie bekennt: "Du bist ein Gott, der mich sieht." Da gibt sie zu: Du, Herr, siehst manchmal tiefer, als mir lieb ist. Aber gerade deshalb nehme ich dich ernst. Dieser Gedanke taugt vielleicht nicht für eine Trostpostkarte. Er durchkreuzt vielleicht meine religiösen Wünsche und Phantasien. Das mag sein. Aber ich kann damit Gott so erkennen, wie er wirklich ist.

3. Gottes liebevoller Blick

Gott liebt uns so sehr, dass er uns manchmal regelrecht hinterher läuft. So geschieht das auch im Fall von Hagar. Hagar ist ihm nicht egal, obwohl sie falsche Wege gegangen ist. Und so schickt er ihr einen Engel, der sie in ihrer schwierigen Lage aufsucht. Das Erstaunliche ist: Wir lesen nicht einmal, dass Hagar in ihrer Not gebetet hat. Der Engel kommt zu ihr unaufgefordert. Und er richtet ihr ein Versprechen Gottes aus: "Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können." (1. Mose 16:10) Das heißt: Obwohl ihr Sohn Ismael nicht der verheißene Erbe für Abraham ist. So hat sie doch Teil an seinem Segen. Als Teil der Familie von Abraham hat auch sie eine Zukunft, weil Gott nach ihr sieht.
Ich denke, wir vergessen das viel zu oft, auch als Christen: Dass Gott nach uns sieht. Und dann schaust du zurück, auf ein verwirrendes Jahr, voller Nöte und Umbrüche. Du siehst auf die Zukunft. Auf das Jahr, das vor dir steht. Und das Herz ist voller Sorgen: Was wird da noch alles auf uns zukommen, das kann doch nichts werden. Und vielleicht vergisst du  darüber sogar das Beten, so wie Hagar. Wenn das geschieht. Dann brauchen wir Worte wie die von Jesus, in der Bergpredigt: "Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft." (Matt. 6:31-32) Du bist ein Gott, der mich sieht. Mit seinem liebevollen Blick. Und sich kümmert.
Ich möchte aber noch einen Schritt weiter gehen. Denn Gott sieht nicht nur die ganz irdischen, praktischen Nöte, die uns immer wieder zu schaffen machen. Er sieht vor allem unsere größte Not: Die Sündennot. Als Hagar mit ihrem Sohn in die Wüste flieht. Da flieht sie nicht nur vor ihrer Herrin Sara. Da flieht sie auch vor Gott. Ich denke, diese Art von Vermeidungsstrategie ist uns geläufig. Ich habe etwas getan, das im Widerspruch zu Gottes Willen und seinen Geboten steht. Doch statt die Sache in Ordnung zu bringen und Gottes Vergebung zu suchen. Laufe ich vor dem Problem weg, stürze mich vielleicht in allerlei Arbeit und Aktivität, und hoffe, dass mein Gewissen mich dann in Ruhe lässt. Wie gut, dass Gott auch dann nach mir sieht, und mir manchmal sogar hinterher läuft.
Der "Engel des Herrn", der Hagar hinterhergeschickt wird, ist im Alten Testament ein fest geprägter Ausdruck. Manche Ausleger sehen darin einen Hinweis auf Jesus, der schon immer existierte. Der Gott war, bevor er ein Mensch wurde und in einem Stall zur Welt kam. Warum kam er in diese Welt? Weil Gott unsere größte Not, die Sündennot, gesehen hat. Und wisst ihr, wo der Engel des Herrn wieder auftaucht? Im Zusammenhang mit der Weihnachtsgeschichte. Als Maria schwanger ist, da erscheint ihrem Verlobten Josef ebenfalls der Engel des Herrn (Matthäus 1:19-25). Und er sagt ihm über Maria: "... sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden." (Matthäus 1:21)
Für Hagar, damals vor Tausenden von Jahren, waren diese Zusammenhänge noch verborgen. Wir dagegen wissen es: Jesus ist in die Welt gekommen, als Kind in der Krippe. Als Mann am Kreuz, der für unsere Sünden starb. Und so können wir unsere Vermeidungsstrategien  lassen. Dann, wenn Gott mich angesehen hat, mit seinem durchdringenden Blick. Und ich erschrecke, weil er auch meine Abgründe durchschaut, und sieht, was kein Mensch wissen darf. Denn dann weiß ich, wo ich Hilfe und Vergebung finde: Bei Jesus, der gekommen ist, um mich zu retten von meinen Sünden.
Ja, es es wirklich so: Wenn Gott mich ansieht, dann wird mein Leben neu. Dann fasse ich Vertrauen. Dann lasse ich das Sorgen um die Zukunft. Dann finde ich Frieden mit Gott. Lasst uns an seiner Hand in das Neue Jahr gehen. "Du bist ein Gott, der mich sieht." Amen.

zurück zur Übersicht